Unsichtbare Strömungen im Ozean

Was nie geschehen ist, das erste Buch der dreißigjährigen New Yorkerin Nadja Spiegelman, ist eine biographische Spurensuche der besonderen Art, die sich liest wie ein Roman und dabei so reflektiert und interessant ist wie ein Essay. Am Anfang dieser Suche stand der Wunsch der Autorin, ihre Mutter besser zu verstehen; am Ende der Gespräche, die Spiegelman mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter über Jahre hinweg führte, steht ein Buch, das seinesgleichen sucht.

Als sie aufwächst, ist Nadjas Beziehung zu ihrer Mutter Françoise Mouly eng. Sie nimmt sie als Fee wahr, als furchtlose Abenteurerin. Später jedoch häufen sich Ausbrüche, „die das Haus zum Wanken brachten und ebenso schnell vorüber waren, wie sie gekommen waren.“ Diese Wut richtete sich auch gegen Nadja, mündete in Vorwürfe, die diese nicht nur als ungerecht, sondern als vollkommen unzutreffend empfand. War der Ausbruch einmal vorüber, stritt ihre Mutter ab, was passiert war, oder interpretierte es um. So wie sie es erzählte, sollte es gewesen sein, und da es keinerlei Beweise mehr dafür gab, was geschehen war, begann Nadja, ihre eigene Wahrnehmung zu bezweifeln. Die Realität ihrer Mutter drohte ihre eigene auszulöschen. Erst als Nadja auszog, um zu studieren, ermöglichte die neu gewonnene Eigenständigkeit eine andere Art des Kontakts, die Distanz eine neue Nähe. Plötzlich gab Françoise ihrer Tochter Antworten, die sie ihr bisher verweigert hatte, die beiden kamen ins Gespräch, und Nadja sah die Möglichkeit, besser zu verstehen und eine gemeinsame Perspektive zu gewinnen.

Die Autorin ist sich der Schwierigkeiten ihres Unterfangens bewusst, weiß jedoch, was sie tut. Ihre Mutter ist Kinderbuch-Verlegerin und Art-Director des New Yorker, ihr Vater ist Art Spiegelman, der in seinen mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Maus-Comics die Geschichte seines Vaters, eines Holocaust-Überlebenden, nachgezeichnet hat. Da Nadja in diesem Werk selbst vorkommt, weiß sie, wie sie dem Guardian in einem Interview sagte, was es bedeutet, über jemanden zu schreiben. Nicht jedem gefällt, was da aufgeschrieben wird, nicht alle erinnern sich gleich, und es geht immer auch darum, wem Geschichten gehören, wer die Deutungshoheit hat. Das gilt besonders, wenn es um verletzendes Verhalten geht, und davon gibt es in dieser Familiengeschichte eine ganze Bandbreite, von Vernachlässigung bis zu verbalen Grausamkeiten. Andererseits erschien es Nadja Spiegelman gerade durch die Arbeit ihres Vaters als fast schon natürlicher Prozess, übereinander zu schreiben, und damit zumutbar, als Figur in einem Buch aufzutauchen. Ihre Mutter erklärt sich bereit, ihren Erinnerungen auf den Grund zu gehen und sich Nadja zu öffnen, die daraufhin beginnt, sie so sensibel wie kompromisslos zu befragen. Françoise bricht zwar manchmal plötzlich ab, ist jedoch bemüht, so offen wie möglich – manchmal für beide schmerzhaft – Auskunft zu geben.

Da ist zum Beispiel die Geschichte, wie Françoise Nadja, die sie als Baby immer in einem Tragetuch am Körper trug und nachts mit in ihr Bett nahm, ihrer französischen Familie vorstellen wollte. Die Familie bestand so lange darauf, dass Françoise ihr Kind während des Abendessens im Schlafzimmer lassen sollte, bis sie dem Rat widerstrebend folgte. Als Nadja anfing zu schreien, wurde Françoise gedrängt, es zu ignorieren, das Baby werde sich schon müde schreien. Françoise gab nichts auf die Haltung ihrer Familie, aber eins wurde ihr bei dieser Gelegenheit klar: „So wäre das also, wenn ich sie hier großziehen würde. Alles würde sich wiederholen.“ Sie überquert den Ozean, geht nach Amerika, um Abstand von ihrer Mutter zu bekommen, ihr eigenes Leben führen, sie selbst werden zu können. Aber Françoises Beziehung zu ihrem ersten Kind ist so eng, dass sie sie irgendwann als Gefängnis erlebt und sich befreien muss. Wie sie Nadja viel später, während der Gespräche für das Buch, erzählt, war es diese Empfindung, die den Entschluss in ihr auslöste, ein zweites Kind zu bekommen: als Ausweg, um dieser allzu großen Nähe etwas Zwingendes entgegenzusetzen.

Reiste Françoise von Paris nach New York, um eine möglichst große Distanz zwischen sich und ihre Mutter Josée zu legen, reist Nadja eine Generation später in umgekehrter Richtung über den Atlantik, um ihrer Großmutter näher zu kommen. Sie bleibt lange und lernt Josée so gut kennen, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Aber es zeigt sich auch, insbesondere bei den Treffen, bei denen auch Françoise dabei ist: Nicht alle zu Geschichten geronnenen Erinnerungen fügen sich. Ein Ereignis, auf das eine der Frauen schwören könnte, kann so nicht gewesen sein. Das Erzählte widerspricht sich, aber gemeinsam bildet es einen Resonanzraum und beginnt zu klingen.

Anschaulich nachvollziehbar wird durch diese Kette von Mutter-Tochter-Beziehungen auch etwas, das in den letzten Jahren durch die Publikationen zu den Themen Epigenetik und Kriegskinder/Kriegsenkel langsam ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt ist: Erlebte Traumata, Verletzungen und Verunsicherungen werden von einer Generation an die nächste weitergegeben, sodass sich noch in den Achtzigerjahren Geborene wie Nadja Spiegelman konfrontiert sehen mit den Verhärtungen, die der Zweite Weltkrieg für die Großelterngeneration und folglich auch für die Elterngeneration mit sich gebracht hat. Als Nadjas Großmutter berichtet, ihr Mann, der Arzt war, habe in den ersten Jahren ihrer Beziehung mehrere Abtreibungen bei ihr vorgenommen, Ausschabungen ohne Narkose, und Nadja sagt, das sei sicher nicht nur körperlich sehr schmerzhaft gewesen, schnaubt Josée belustigt: Frauen, die traurig werden, weil sie einen Fötus verloren haben? „Eigentlich sind das alles bloß Leute, die nie den Krieg gekannt haben. Diese Frauen haben sonst nichts im Hirn.“

So individuell die Geschichte von Nadja Spiegelmans Familie ist, so allgemeingültig sind die Prinzipien, von denen sie erzählt: Nicht nur Eltern prägen ein Leben, auch Großeltern, denn selbst, wenn sie abwesend sind: In den Eltern sind sie anwesend, nicht zuletzt durch all das Unausgesprochene. Was zumutbar und aushaltbar ist, wie man mit Babys umzugehen hat, wie man Kinder erzieht und wieviel Nähe nötig oder wünschenswert ist – diese Vorstellungen prägen die Beziehungen von Eltern und Kindern, insbesondere die von Müttern und Töchtern, ziehen Verletzungen und Vorwürfe nach sich und gute Vorsätze, es anders zu machen – was für die nächste Generation wieder ganz eigene Probleme mit sich bringt. Und so sieht Nadja Spiegelman am Ende über die Generationen hinweg ein Muster entstehen: „all die Enkelinnen und ihre Großmütter, die sich liebten, all die Mütter, die dabei auf der Strecke blieben.“

Nadja Spiegelman versteht immer besser, was ihre Mutter alles getan hat, um sich von ihrer eigenen Mutter zu unterscheiden, und sie sieht, „wie die so lang verschwiegene Vergangenheit uns lenkte. Sie glich einer unsichtbaren Strömung im Ozean, sie definierte unseren Abstand, unsere Nähe zueinander, und sie verlief in einer solchen Tiefe, wir merkten kaum, dass nicht wir selbst den Kurs bestimmten.“ Der Versuch, diese Zusammenhänge zu verstehen, den Geschichten ihrer weiblichen Vorfahren nachzugehen, muss nicht nur intellektuell, sondern auch emotional eine enorme Herausforderung gewesen sein. Und selbst, wenn Nadja Spiegelman hier und da etwas weggelassen oder Rücksicht genommen haben sollte, hat sie ihr Projekt weitgehend kompromisslos umgesetzt. Für diesen Mut hat sie meine Hochachtung und Bewunderung. Es ist ein großartiges, mitreißendes Buch, das dabei entstanden ist, nachdenklich und erhellend, poetisch, spannend und absolut lesenswert.

Nicole Seifert

Nadja Spiegelman
Was nie geschehen ist
Aus dem Amerikanischen von Sabine Kray
Aufbau Verlag
294 Seiten
22 Euro

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

4 Kommentare zu „Unsichtbare Strömungen im Ozean

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