Ganz normale Frauen zwischen Drama und Selbstironie

„Mit jeder neuen Lebensphase stand man wieder bei Ikea, jede Hoffnung begann und endete dort.“ Das ist einer dieser wunderbaren Lucy-Fricke-Sätze, und er bringt auf den Punkt, was ihren neuen Roman Töchter ausmacht: Ihre Protagonistinnen, die nebenan wohnen könnten, reflektieren das Leben so klug wie ironisch, sie sind fast vierzig (die Autorin ist Jahrgang 1974), haben Herz und Verstand, und sie haben die ersten Verluste und Enttäuschungen des Lebens hinter sich.

Die Ich-Erzählerin Betty und ihre Freundin Martha kennen einander besser als irgendjemand sonst, und sie haben vor Jahren gemeinsam einen Autounfall überlebt, in dessen Folge ein Freund gestorben ist. Betty sollte eigentlich ihr zweites Buch schreiben, lebt aber stattdessen davon, ihre Berliner Wohnung unterzuvermieten und währenddessen günstig zu verreisen. Ansonsten kommt sie mit Hilfe von Kneipenbesuchen und Antidepressiva über die Runden. Martha dagegen ist seit langem liiert, versucht schwanger zu werden und hat ihr Leben im Griff – so fest, dass sie sich dabei fast stranguliert, wie Betty bemerkt.

In diesem Roman geht es um Freundschaft und um Väter, von denen Betty wegen der seriellen Monogamie ihrer Mutter gleich drei hat. Genau einen davon hat sie geliebt, nämlich den zweiten, der ihre Mutter allerdings verließ, als Betty noch ein Kind war. Damit war auch sie zum ersten Mal verlassen worden, abrupt, „ohne Ausschleichen“, lange bevor sie auf seine Anwesenheit hätte verzichten können. Martha hat nur einen Vater und zu diesem erst seit kurzem wieder Kontakt; er hat Krebs im Endstadium. Als Kurt sie plötzlich bittet, ihn in die Schweiz in ein Sterbehospiz zu fahren, fühlt sich Martha restlos überfordert. Machen will sie es trotzdem, nur traut sie sich nicht, sich in dieser Situation ans Steuer zu setzen. Also muss Betty ran, und damit nimmt die Geschichte ihren Lauf.

Den Protagonistinnen fällt zu dieser Ausgangssituation dasselbe ein wie vermutlich jeder Leserin im selben Alter: Thelma und Louise. Allerdings weist Martha darauf hin, dass die jung, sexy und unterdrückt“ waren. „Guck uns an, wir sind nicht mal unterdrückt.“ Die Mischung aus Schnoddrigkeit und echter Verzweiflung, von der der Film lebt, passt jedoch, auch wenn das Buch einen ganz eigenen Ton hat, gerade weil es um eine Frauengeneration geht, die theoretisch machen kann, was sie will. Nur ist damit die Erwartung verknüpft, dass sie auch machen muss, was sie will – „und das wiederum hieß, dass wir etwas wollen mussten.“ Aufgeben ist genauso wenig vorgesehen wie sich mit wenig zufriedenzugeben – bei den Möglichkeiten! Als Betty beim Fahren erzählt: „Meine Mutter sagt immer: Hauptsache, du bist glücklich“, bricht Martha zum ersten Mal seit der Abfahrt in Lachen aus und kann überhaupt nicht mehr aufhören. Die beiden lachen, bis ihnen die Tränen hinunterlaufen – so viel zur Möglichkeit von Neuanfängen und ihrer Hoffnung auf Glück.

So fertig wie Marthas Vater, der bald zusteigt, sind die beiden allerdings noch nicht mit dem Leben. Kurt macht außer dem Rauchen nichts mehr Freude, und wenn er ein lachendes Kind am Straßenrand sieht, möchte er weinen: „Das arme Ding, was das noch alles vor sich hat.“ Komplett am Ende ist aber selbst Kurt noch nicht, und so geht es zunächst noch nicht ins Sterbehospiz, sondern erstmal an den Lago Maggiore. Dort will Kurt eine alte Liebe besuchen, und Betty macht sich endlich auf die Suche nach dem Grab ihres zweiten Vaters. Diese in Italien spielenden Szenen haben eine ganz eigene Atmosphäre, die sich vielleicht am ehesten beschreiben lässt als Mischung aus einer Adriano-Celentano-Komödie und der Abgründigkeit der Filmfiguren aus Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (eine ziemlich großartige Mischung, finde ich). Als ein italienischer Polizist, auf den Betty und Martha einigermaßen irritierend wirken, vorsichtig fragt, ob sie eigentlich normale deutsche Frauen seien, antwortet Betty: „Aus Berlin. Hauptstadtnormal. Wir fallen nicht weiter auf.“

Noch mehr Lieblingsstellen will ich nicht verraten, nur so viel noch: Dieses Buch ist in vieler Hinsicht ein Genuss, nicht zuletzt sprachlich und stilistisch. Es ist voller wunderbarer Vergleiche und Beobachtungen, die das Leben der studierten, in den Großstädten lebenden um die Vierzigjährigen nicht besser beschreiben könnten. Die Figuren sind zutiefst menschlich in ihren Ambitionen und Schwächen und suchen sich trotz aller Tiefschläge zwischen Hoffnung und Resignation ihren Weg. Auch dramaturgisch stimmt die Geschichte, selbst wenn die Handlung in der zweiten Hälfte nicht mehr so zügig vorangeht wie in der ersten – aber das mag ich dem Roman nicht vorwerfen, zumal sich bei Betty in der zweiten Hälfte eine gewisse Urlaubsträgheit einstellt, die sich auf die Leserin überträgt, und so passt es wieder. Töchter ist ein Buch, das die Dramen des ganz normalen Lebens mit Intelligenz und Humor erzählt und auf hohem Niveau unterhält. Mich hat es zum Lachen und zum Weinen gebracht, zum Nachdenken sowieso – und was will man, bitte, mehr?!

Nicole Seifert

Lucy Fricke
Töchter
Rowohlt

240 Seiten
20 Euro

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

Ein Kommentar zu „Ganz normale Frauen zwischen Drama und Selbstironie

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