„Einige Herren sagten etwas dazu“

In dieser Woche ist mein neues Buch erschienen, in dem es um die Autorinnen der Gruppe 47 geht. Denn es waren auch Frauen bei den legendären Treffen der Nachkriegszeit, neben den bekannten Namen Günter Eich und Wolfdietrich Schnurre, Günter Grass und Heinrich Böll, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger. Die eine Autorin, die unverzichtbar zur Gruppengeschichte gehört, ihre Schlumpfine gewissermaßen, ist Ingeborg Bachmann, die verehrt, aber auch mit Häme überzogen wurde wie keine andere. Annähernd alle anderen Frauen wurden im Zuge der Literaturgeschichtsschreibung und der Legendenbildung mehr oder weniger gründlich aus der Geschichte herausgeschrieben: Ilse Schneider-Lengyel, die Gastgeberin des ersten Treffens, die eben nicht nur Gastgeberin war, sondern Fotografin, Ethnologin und Autorin. Mit ihren surrealistisch geprägten Gedichten wussten die Kriegsheimkehrer nichts anzufangen und machten sich über sie lustig. Ruth Rehmann, die 1958 ein Kapitel aus dem Roman las, an dem sie gerade arbeitete, und Begeisterung und Anerkennung dafür erntete – nur leider las am Tag darauf ein weitgehend unbekannter Grafiker und Lyriker ebenfalls aus seinem unveröffentlichten Roman. Er hießt Die Blechtrommel und begeisterte noch viel mehr. Gabriele Wohmann, deren genaue Schilderungen von Paarbeziehungen der Mentalitätsgeschichte eines ganzen Milieus gleichkommen. Gisela Elsner, deren scharfe Satiren auf die Wohlstandsgesellschaft den Zuhörenden zu viel waren. Und noch einige andere Autorinnen, die eine Entdeckung wert sind.

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Newsletter: Lieblingsromane 2023 und ein Blick ins nächste Jahr

Hoffentlich noch rechtzeitig zum Wünschen und Verschenken kommen hier meine Lieblingsromane des vergangenen Jahres. Beginnen tue ich aber mit einem Sachbuch, das mir in diesem Jahr besonders nachgegangen ist und das viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als es bekommen hat: „Lebewohl, Martha“, Die Geschichte der jüdischen Bewohner meines Hauses von Ingke Brodersen, erschienen im Kanon Verlag. Die Historikerin ist der Geschichte des Hauses nachgegangen, in dem sie lebt, einem Jahrhundertwendebau mit acht Parteien im Bayrischen Viertel Berlins. Sie erzählt von den vierundzwanzig jüdischen Bewohner*innen, die 1942 deportiert wurden, rekonstruiert ihr Leben und die Spuren, die nach der „eifrig schreddernden deutschen Nachkriegsgesellschaft“ von ihnen geblieben sind. Dabei gelingt ihr das Kunststück, sowohl mit respektvoller Distanz, als auch nah und persönlich zu berichten, was sie vorgefunden hat, was mit Sicherheit feststeht und worum es wahrscheinlich ergänzt werden muss. Ein beeindruckendes Buch, das durch den aufflammenden Antisemitismus in diesem Jahr eine traurige Aktualität bekommen hat. Umso dringender meine Empfehlung.

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Enid Blytons „Dolly“ revisited

Das Büchertagebuch, das ich mit elf Jahren anfing zu führen, beginnt mit Enid Blytons Dolly. Ich las im Winter Band 1 bis 12,  wiederholte das Ganze im nächsten Winter samt des neu erschienenen 13. Bandes und im Jahr darauf nochmal samt des neuen 14. Bandes. Dann hörte ich damit auf, ab 1986 verstaubten die Dolly-Bücher neben den noch zahlreicheren Hanni-und-Nanni-Büchern in meinem Regal. Trotzdem zogen sie Jahrzehnte lang jedes Mal wieder mit mir um, sie gehörten irgendwie zu mir, und ich wünschte mir, dass sie eines Tages auch meine Tochter lesen würde, lange bevor ich eine Tochter hatte.

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Newsletter: Unsere Reihe rororo Entdeckungen startet

Nach über anderthalb Jahren Planung ist es endlich so weit: Die ersten drei Titel der Buchreihe, die ich zusammen mit Magda Birkmann im Rowohlt Verlag herausgebe, erscheinen!

Zu Beginn des letzten Jahres kam meine frühere Rowohlt-Kollegin Sünje Redies auf mich zu, die im Verlag geblieben und dort inzwischen Programmleiterin für den Bereich Taschenbuch Belletristik ist. Sie hatte in den Weihnachtsferien mein Buch Frauen Literatur, Abgewertet, Vergessen, Wiederentdeckt gelesen und fand, angesichts all dieser vergessenen Autorinnen müssten wir etwas tun. Ihre Idee passte sehr gut zu dem, woran ich schon zusammen mit meiner Freundin und Leseschwester im Geiste Magda Birkmann herumdachte, studierte Linguistin und Buchhändlerin im Berliner Ocelot. Wir setzten uns alle zusammen und überlegten, was genau uns vorschwebte, und herausgekommen ist die Reihe rororo Entdeckungen, in der ab sofort pro Halbjahr drei Romane vergessener Autorinnen des 20. Jahrhunderts aus aller Welt erscheinen werden. Jeder Titel enthält ein Nachwort von Magda oder mir, in dem wir die Geschichte der Autorin und des Buches erzählen und den Roman auch literaturgeschichtlich und motivisch ein bisschen einordnen.

In diesem Herbst starten wir mit drei Romanen, die sehr unterschiedlich, aber alle in den frühen 30er Jahren angesiedelt sind – einmal im Berlin der Wirtschaftskrise, einmal auf einem Hausboot auf der Themse unweit von London und einmal in New York, genauer in Harlem.

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Newsletter: Unbekannte Klassikerinnen in neuen Ausgaben

Nachdem es im Blogbeitrag Meine Lieblingsromane 2022 ausschließlich um Literatur von heute ging, sind diesmal die Klassikerinnen an der Reihe. In letzter Zeit haben sich einige Verlage der Wiederentdeckung vergessener Autorinnen gewidmet und tolle Projekte realisiert, und an einigen davon durfte ich auf die ein oder andere Weise mitarbeiten.

Riesig gefreut habe ich mich, als vor einem guten Jahr der Arche Verlag anfragte, ob ich Shirley Jacksons komischen Roman über ihr Familienleben aus dem Englischen übersetzen möchte, der inzwischen unter dem Titel Krawall und Kekse erschienen ist. Shirley Jackson (1916-65), die in den USA berühmt ist für ihre abgründige, mit Horrorelementen arbeitende Literatur, zeigt in diesem humorvollen Text über das Leben mit kleinen Kindern in den 50er Jahren eine ganz andere Seite. Der Frage, wie diese zwei so unterschiedlichen Facetten ihres Werks zusammenpassen, bin ich in einem Nachwort nachgegangen, das auch hier zu lesen ist. Ein Roman zum laut Lachen und zum Gruseln (weil sich so erschreckend wenig geändert hat), der die unterschiedlichsten Leser*innen begeistert, egal in welchem Alter und ob mit oder ohne Kinder.

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Meine 10 Lieblingsromane 2022

Es war überraschend leicht, aus meinen knapp neunzig gelesenen Büchern in diesem Jahr die zehn herauszusuchen, die mich am meisten begeistert haben, die herausstachen, von denen am meisten geblieben ist. Hier sind sie, kurz und knapp:

Tessa Hadley, Free Love / Freie Liebe

London, 1967, Eine verheiratete Frau und Mutter verliebt sich in einen jüngeren Mann. Das haben wir schon oft gelesen, von Männern, deren Protagonistinnen in der Folge dann abgestraft wurden, einsam wurden, anfingen zu trinken, in der Psychiatrie landeten oder gestorben sind. Nicht so bei Tessa Hadley, einer der Besten in Sachen Atmosphäre, zwischenmenschliche Beziehungen, Timing, ach, überhaupt. Ewige Lieblingsautorin. Deutsch von Christa Schuenke bei Kampa erschienen.

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Newsletter: Was war und was kommt

Während es auf dem Blog nach wie vor sehr ruhig ist, passiert drum herum um so mehr. Es sind Bücher und Artikel erschienen, die ich vorstellen möchte, es haben tolle Veranstaltungen und Gesprächsrunden stattgefunden, an denen ich teilgenommen habe, und es ist viel geplant. Grund genug, hierher zu holen, was in den letzten Wochen und Monaten so war. 

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„Diese Mischung aus Dämonie und Idylle“ 

In Nebenan ergründet Kristine Bilkau das menschliche Zusammenleben. Ein kluger, feiner Roman zum (Wieder)Erkennen und zum Schaudern.

Zwei Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen, die wenige Kilometer voneinander entfernt leben, sich zunächst nicht kennen und nicht allzu viel gemeinsam zu haben scheinen. Astrid ist Ärztin, ihre Kinder sind längst aus dem Haus, ihr Mann bereits in Rente, in absehbarer Zeit wird sie ihre Praxis abgeben, vieles geht zu Ende. Julia ist vierzig und gerade mit ihrem Mann aus Hamburg aufs Land gezogen, ein Neuanfang. Das Paar möchte ein Kind bekommen, mittlerweile mit medizinischer Hilfe. Weil sie auf ihre CO2-Bilanz achten, versuchen sie in dem winzigen Dorf, in dem sie ein Haus gekauft haben, ohne Auto auszukommen. Wer aus dieser Zusammenfassung schließt, in Nebenan werde satirisch zugespitzt, zeit- oder milieutypische Verhaltensweisen würden zum Zweck des Amüsements bloßgelegt, ist auf der falschen Spur. Kristine Bilkau macht genau das Gegenteil. Ihr – unendlich viel schwierigeres – Anliegen ist es, zu ergründen und nachvollziehbar zu machen, was ihre Figuren im Innersten umtreibt, und das gelingt ihr aufs Wunderbarste. Nebenan ist ein Geflecht aus Geschichten und Motiven, das es in sich hat, ein Roman von hoher Dichte, der nach einem stillen Anfang eine zunehmende Wucht entfaltet.

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