Freuds berühmteste Patientin

Ida Bauer ist gerade einmal achtzehn Jahre alt, als ihr Vater sie kurz vor der Jahrhundertwende zu dem damals noch nicht besonders bekannten Sigmund Freud schickt. Dieser entwickelt gerade seine Triebtheorie und sieht die Möglichkeit, sie an Idas Beispiel durchzuexerzieren. Er diagnostiziert eine petite hystérie und stellt die junge Frau unter dem Decknamen Dora ins Zentrum seiner Veröffentlichung Bruchstück einer Hysterie-Analyse – „Bruchstück“, weil Ida die Behandlung bald abbrach, wofür sie später von Feministinnen verehrt und von Freud-Anhängern verurteilt wurde. Jetzt hat Katharina Adler, die Urenkelin von Ida Bauer, einen Roman vorgelegt, der eine fiktionalisierte Biografie Ida Bauers ist. In diesem setzt Katharina Adler die Freud-Episode in den Kontext eines ganzen Lebens und stellt ihre Urgroßmutter nicht als Patientin dar, sondern versucht sie als Menschen zu verstehen.

Als Ida Bauer sich Freud vorstellt, leidet sie unter Stimmlosigkeit, Atemnot und nervösem Husten, vor allem aber leidet sie unter dem außerehelichen Verhältnis ihres Vaters, unter der Verbitterung ihrer Mutter und der Abwesenheit ihres geliebten Bruders Otto, der sich ganz der österreichischen Sozialdemokratie verschrieben hat. Freuds Behandlung besteht zu Idas Verwunderung darin, ihr Fragen zu stellen, während sie auf dem Diwan liegt und er hinter ihr sitzt. Was ihm an ihren Antworten relevant erscheint, ist ihr ein Rätsel, und welche Schlüsse er daraus zieht, erst recht. Er selbst wusste jedoch, wie in seinem Bruchstück einer Hysterie-Analyse zu lesen ist, von Anfang an, worauf er hinauswollte, denn Idas Vater hatte ihm vorab Folgendes berichtet:

Der Vater berichtete mir, daß er wie seine Familie in B. intime Freundschaft mit einem Ehepaar geschlossen hätten, welches seit mehreren Jahren dort ansässig war. Frau K. habe ihn während seiner großen Krankheit gepflegt und sich dadurch einen unvergänglichen Anspruch auf seine Dankbarkeit erworben. Herr K. sei stets sehr liebenswürdig gegen seine Tochter Dora gewesen, habe Spaziergänge mit ihr unternommen, wenn er in B. anwesend war, ihr kleine Geschenke gemacht, doch hätte niemand etwas Arges daran gefunden. (Bruchstück einer Hysterie-Analyse, S. 27)

Die beiden Männer haben sich bereits darauf verständigt, was von der Geschichte, die Ida erzählt, zu halten und wie sie zu deuten ist. Was Ida selbst dazu zu sagen hat, glauben ihre Eltern nicht, und Freud will nur hören, was in seine Theorie passt. Woran „niemand etwas Arges“ fand, waren wiederholte sexuelle Zudringlichkeiten des „Herrn K.“, gegen die sich die damals Dreizehn- bis Fünfzehnjährige nur schlecht wehren konnte, nicht zuletzt wegen seiner „freundschaftlichen“ Verbindung zur Familie. Freud selbst musste hier an ein Tauschgeschäft denken: Der Vater pflegt sein Verhältnis zu Frau K. und stellt ihrem Mann dafür seine Tochter zur Verfügung. Dessen ungeachtet macht Freud sich auf die Suche nach Idas Anteil an dem Ganzen – ein Vorgehen, für das es heute den Ausdruck victim blaming gibt. Er erklärt den nervösen Husten mit Fellatio-Fantasien und versucht Ida das Geständnis abzuringen, dass sie den Herrn K. doch eigentlich begehre; jede andere Reaktion sei nicht normal, eine Dreizehnjährige müsse doch angesichts des erigierten Gliedes des fünfundzwanzig Jahre älteren Mannes eine „Genitalsensation“ empfinden. Dass sie sich stattdessen vor ihm ekele, beweise, dass das Mädchen bereits „ganz und voll hysterisch“ sei. Außerdem schreibt Freud: „Ich kenne zufällig Herrn K.; …. ein noch jugendlicher Mann von einnehmendem Äußern“. Dass Ida sich bei ihren Eltern über ihn beschwerte, wertet er als Zeichen „krankhafter Rachsucht“.

Ida ist verwirrt und befragt sich trotz ihrer eindeutigen Gefühle selbstkritisch, ob Freud womöglich recht haben könnte und sie sich etwas vormacht. Als Freud jedoch das Schmuckkästchen, das Ida im Traum vor einem Feuer rettet, zu einem Symbol ihrer Vagina erklärt, genau wie die kleine Handtasche, die sie sich gekauft hat, wird es ihr langsam zu bunt. Und als sie einmal ihre Finger in dem Täschchen hat, und der Psychologe dies als Beweis dafür sieht, dass sie krankhaft masturbiert, setzt sie Freud insgeheim ein Ultimatum:

Sie würde ihm den Traum erzählen, in dem der Papa gestorben war. Wenn dabei endlich einmal etwas anderes herauskam als seine blöden Ideen zum Hanns, zur Vaterliebe oder dem Fluor, dann konnte sie es sich noch einmal überlegen.

Nein! Wie hatte sie auch nur hoffen können, er werde irgendetwas auf sich beruhen lassen. Sie wollte sich nicht mehr anhören, wie er alles verdrehte, bloß, um im Recht zu bleiben. Wenn sie im Traum nach dem Bahnhof frage, meinte er, dann frage sie eigentlich nach einer Schachtel, und das wiederum erinnere an ihre Frage nach dem Schlüssel zum Speisekasten an den Feiertagen. Ob Schachtel oder Schlüssel, alles wurde ihm zum Genital. Und der Bahnhof diene dem ‚Verkehre’. (Ida, S. 338)

An dieser Stelle reicht es Ida, sie vertraut auf ihre eigene Einschätzung, schlägt den Rat Freuds wie den ihres Vaters aus und bricht die Behandlung nach knapp drei Monaten ab – eine Selbstermächtigungsgeste, für die man eine Achtzehnjährige im Jahr 1900 nur bewundern kann.

Der Roman erzählt Idas ganzes, zwei Weltkriege umspannendes Leben, von der Kindheit und Jugend über die Ehe mit dem Komponisten Ernst Adler, die Geburt des einzigen Kindes Kurt, bis zur eigenen politischen Arbeit für die österreichischen Sozialdemokraten im Jahr 1934 und schließlich zur Flucht in die USA, wo Freuds Theorien inzwischen in Mode gekommen waren und wo Ida kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs 63-jährig einem Krebsleiden erlag. Für die 1980 geborene Katharina Adler war die jahrelange Arbeit an diesem Roman existenziell, wie sie 2017 im ZEIT-Magazin schrieb. Ihre Urgroßmutter war auf der einen Seite eine historische Figur, auf der anderen Seite erzählte man im Familienkreis Anekdoten über ihren Humor und die Unnachgiebigkeit, mit der sie ihren Sohn sämtliche Hausaufgaben drei Mal machen ließ. Davon ausgehend hat sich Katharina Adler ohne Kompromisse auf die Spuren ihrer Urgroßmutter begeben, hat breit recherchiert und versucht, Idas Ambitionen zu verstehen.

Herausgekommen ist ein sehr lesenswertes und interessantes, wenn auch mal mehr, mal weniger spannendes Buch, denn nicht alles ist so faszinierend wie die Freud-Episoden. Möglicherweise hätte eine erfahrenere Autorin mit den dramaturgischen Schwächen, die eine reale Lebensgeschichte nun einmal hat, anders umzugehen gewusst – die Leichtigkeit und Unmittelbarkeit, mit der hier eine historische Person zu einer lebendigen, manchmal anrührenden, manchmal irritierenden, in ihren Widersprüchen und ihrer Komplexität nachvollziehbaren und glaubwürdigen Figur erweckt wird, ist jedoch bewundernswert. Adler erzählt nicht chronologisch, sie wechselt zwischen der nach New York geflüchteten Sechzigjährigen und der Heranwachsenden, und die junge Ida gelingt ihr so glaubwürdig wie die ältere und ist in dieser wiedererkennbar, so sehr bestimmte Züge mit den Jahren auch in den Vordergrund getreten sind.

Katharina Adler hat sich (wie die auf diesem Blog bereits besprochene Nadja Spiegelman) auf die Spuren ihrer Vorfahrin begeben und sich damit eine große und schwierige Aufgabe gestellt, die sie erfolgreich bewältigt hat. Und da über die umkämpfte „Dora“ bereits viele Texte geschrieben wurden, die alle die Deutungshoheit über ihre Geschichte beanspruchen, hat Katharina Adler noch etwas getan: Sie hat sich die Geschichte ihrer Urgroßmutter zu eigen gemacht – eine Selbstermächtigungsgeste, die man glatt in der Tradition von Ida Bauer sehen könnte.

Nicole Seifert

Katharina Adler
Ida
Roman

Rowohlt Verlag
512 Seiten
25 Euro

 

 

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

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