Newsletter: Lieblingsromane 2023 und ein Blick ins nächste Jahr

Hoffentlich noch rechtzeitig zum Wünschen und Verschenken kommen hier meine Lieblingsromane des vergangenen Jahres. Beginnen tue ich aber mit einem Sachbuch, das mir in diesem Jahr besonders nachgegangen ist und das viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als es bekommen hat: „Lebewohl, Martha“, Die Geschichte der jüdischen Bewohner meines Hauses von Ingke Brodersen, erschienen im Kanon Verlag. Die Historikerin ist der Geschichte des Hauses nachgegangen, in dem sie lebt, einem Jahrhundertwendebau mit acht Parteien im Bayrischen Viertel Berlins. Sie erzählt von den vierundzwanzig jüdischen Bewohner*innen, die 1942 deportiert wurden, rekonstruiert ihr Leben und die Spuren, die nach der „eifrig schreddernden deutschen Nachkriegsgesellschaft“ von ihnen geblieben sind. Dabei gelingt ihr das Kunststück, sowohl mit respektvoller Distanz, als auch nah und persönlich zu berichten, was sie vorgefunden hat, was mit Sicherheit feststeht und worum es wahrscheinlich ergänzt werden muss. Ein beeindruckendes Buch, das durch den aufflammenden Antisemitismus in diesem Jahr eine traurige Aktualität bekommen hat. Umso dringender meine Empfehlung.

Zu den neun Romanen, die mir in diesem Jahr am besten gefallen haben, gehören zwei, die ich auf dem Blog schon im Frühjahr vorgestellt habe: Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück, erschienen im Verlag Klett Cotta, das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und meine persönliche Gewinnerin gewesen wäre, den Preis aber leider nicht bekommen hat. Um so mehr möchte ich ihr Buch noch einmal empfehlen, ebenfalls eine Spurensuche, der Versuch, die Geschichte einer Familie in der DDR und wie sie in die deutsche Geschichte gehört, zu verstehen. Auch Antonia Baums Roman Siegfried, erschienen bei Classen, mit seinen großartigen Szenen und Figurenzeichnungen habe ich hier schon besprochen, wer ihn noch nicht gelesen hat: tut euch den Gefallen.

Auf den allerletzten Metern ist 2023 noch ein Buch dazugekommen, das es sofort ganz nach oben auf meine Lieblingsliste geschafft hat: Gittersee, das Debüt von Charlotte Gneuß, erschienen im S. Fischer Verlag. Ein schmaler, sehr stimmungsvoller und poetischer Roman, der mich auf seine Weise an den von mir geliebten und weithin unterschätzten Klassiker Bonjour, Tristesse von Françoise Sagan erinnert. Auch in Gittersee, ein Stadtteil von Dresden, geht es um eine junge Frau, sie gerät 1976 durch die überraschende Flucht ihres Freundes ins Visier der Stasi. Wie Charlotte Gneuß diese Protagonistin erzählt, ihre Gefühle und Gedanken, ihre Umgebung und ihre Mitmenschen, das gehört zum Besten, was ich seit Langem gelesen habe. Sollte ich den Lieblingsroman des Jahres küren, wäre es dieser.

Beeindruckende und herausstechende Romandebüts sind auch Gewässer im Ziplock von Dana Vowinckel und Schneeflocken wie Feuer der achtzigjährigen Elfi Conrad. In beiden geht es ebenfalls um heranwachsende Mädchen, aber in wieder ganz eigenen Lebensumständen und auf unvergleichliche Weise. Dana Vowinckels Protagonistin Margarita ist als Figur so lebendig und komplex, so gefühlvoll und klug, so überfordert und menschlich und liebenswert, dass ich sie am liebsten kennenlernen würde, wenn sie zwischen ihren Reisen zu ihren Großeltern nach Chicago und zu ihrer Mutter nach Israel mal bei ihrem Vater in Berlin ist. Ich möchte lieber heute als morgen mehr von dieser Autorin lesen. Gewässer im Ziplock ist erschienen bei Suhrkamp.
Elfi Conrads autofiktionaler Roman Schneeflocken wie Feuer, erschienen im Mikrotext Verlag, ist in den 60er Jahren im Harz angesiedelt. Ausgelöst durch ein Klassentreffen blickt die alte Dora auf ihr junges Ich zurück, das zwischen ideologischer Enge und häuslichen Verpflichtungen versuchte, zu seinem Recht zu kommen, zu einem lebenswerten Leben, das zu ihr passt, auch wenn sie dafür gesellschaftliche und moralische Grenzen sprengen musste. Eine tolle Stimme und ein faszinierendes Porträt, gerade auch durch die Perspektive des Rückblicks, und dabei in mancher Hinsicht überraschend aktuell.

Einer historischen Figur hat die Autorin Sarah Raich in ihrem Roman Hell und Laut, erschienen im Marix Verlag, nachgespürt: der ersten deutschen Dichterin Hrotsvit von Gandersheim, von der man nicht viel mehr weiß, als dass sie im zehnten Jahrhundert Kanonisse im niedersächsischen Stift Gandersheim war, wo sie neben anderen Schriften auch die ersten Dramen seit der Antike verfasste. Sarah Raich malt in Hell und Laut in mal fein abgetönten, mal bewusst grelleren Farben eine Welt, die man sofort sieht und riecht und fühlt, und erzählt eine Geschichte, die auf mich den Sog einer guten Netflix-Serie ausgeübt hat (und das, obwohl ich vorher dachte: Mittelalter? interessiert mich nicht so). Ganz großes Kino! Wie die Autorin sich dieser Frau und ihrer Welt genähert hat, hat sie am 14. November in einem einstündigen Instagram Live erzählt, das dort auf meinem Account nachzusehen ist.

Einen historischen Handlungsstrang hat auch Jarka Kubsovas Roman Marschlande (S. Fischer), der mich ebenfalls sehr gefesselt hat. Britta ist mit ihrem Mann und ihren Kindern in ein Haus in den Elbmarschen gezogen und stößt beim Erkunden der Gegend auf die Geschichte von Abelke Bleken (eine historisch belegte, hier fiktionalisierte Figur), die um 1580 dort gelebt hat und als selbständige Bäuerin drangsaliert und als angebliche Hexe verfolgt wurde. Zwei Figuren, zwei Zeiten, glaubwürdig und einander bereichernd verknüpft und so eindringlich erzählt, dass ich noch Monate nach der Lektüre alles vor mir sehe.

Dafür, dass Sylvie Schenk auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, wurde ganz schön wenig über ihr Buch Maman (Hanser) gesprochen, in dem die Ich-Erzählerin der Geschichte ihrer weiblichen Ahninnen nachgeht. Diese waren Seidenarbeiterinnen, die sich prostituieren mussten, um zu ihrem kargen Lohn etwas hinzuzuverdienen und überhaupt überleben zu können. Man fühlt sich an Annie Ernaux erinnert, tatsächlich ist Sylvie Schenks Herangehensweise jedoch das Gegenteil von nüchtern und soziologisch, denn angesichts der wenigen Anhaltspunkte ist sie bei der Annäherung an ihre Mutter und ihre Großmutter weitgehend auf ihre Fantasie und Empathie angewiesen, und gerade dadurch entfaltet dieses Buch seine stille Wucht.

Ein Roman, den ich ganz langsam gelesen habe, mit genug Zeit für Julie Otsukas poetischen Stil, ihre beeindruckenden Bilder und Beobachtungen, ist Solange wir schwimmen (mare Verlag) – so schön aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Katja Scholtz. Ort der Handlung ist ein Schwimmbad, in dem sich die unterschiedlichen Charaktere begegnen, in dem sie sich zu Hause fühlen, das aber von der Schließung bedroht ist, nachdem ein Riss erscheint – am Beckengrund, und auch im Gedächtnis von Alice, der das Schwimmbad und seine Besucher*innen ein wichtiger Halt sind. Es wird aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen Tonlagen erzählt, eine wunderbare Komposition, harmonisch und doch voll überraschender Töne. „Hypnotisch“, „verheerend“, „souverän“, „berührend“ hieß es in den Kritiken völlig zu recht.

Das waren meine neun Lieblingsromane. Eine Liste von empfehlenswerten Weihnachtswünschen und -geschenken wäre aber nicht vollständig ohne einen Hinweis auf die soeben erschienene erste Gesamtausgabe der Werke von Marlen Haushofer.

Zu ihrem 100. Geburtstag hatte ich im April 2020 einen längeren Artikel über Leben, Werk und Bedeutung dieser großen, unterschätzten Autorin geschrieben. Jetzt hat der Claassen Verlag eine besonders schön gestaltete Ausgabe der Romane und Erzählungen vorgelegt, mit wissenschaftlichen Nachworten sowie Vorworten zeitgenössischer Autor*innen wie Clemens Setz und Monika Helfer (das Vorwort für Die Mansarde durfte ich beisteuern). Die Bände sind alle zusammen im Schuber erhältlich (90,- Euro), aber auch einzeln. Im Deutschlandfunk Kultur wurden Haushofers Biografin Daniela Strigl und ich diese Woche zu der Autorin und ihrem Werk interviewt, der Beitrag ist hier nachzuhören.

2023 war ein Jahr, in dem auf diesem Blog nur wenig passiert ist, im Hintergrund aber dafür umso mehr. Bei Rowohlt ist die von Magda Birkmann und mir herausgegebene Reihe rororo Entdeckungen gut gestartet, wir hatten ein paar sehr schöne Veranstaltungen dazu und es gab mehrere gute Besprechungen, insbesondere zu dem Roman Ein Mädchen mit Prokura von Christa Anita Brück, zum Beispiel im Spiegel. Traurig, dass unsere Autorin Louise Meriwether hundertjährig verstorben ist, ehe sie die deutsche Übersetzung ihres Romans Daddy was a Number Runner (deutscher Titel: Eine Tochter Harlems) in Händen halten konnte. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschien aus diesem Anlass eine ausführliche Würdigung Louise Meriwethers von Tobias Rüther. Im Frühsommer werden die nächsten drei Titel der Reihe rororo Entdeckungen veröffentlicht, angekündigt sind sie bereits, ich stelle sie hier alle noch genauer vor, wenn sie erscheinen. Derweil haben wir schon das dritte Programm festgelegt und recherchieren und lesen nun, um eine Auswahl fürs vierte zu treffen…

Außerdem habe ich in diesem Jahr mein nächstes Buch fertiggestellt, das am 8. Februar bei KiWi erscheinen wird: „Einige Herren sagten etwas dazu“, Die Autorinnen der Gruppe 47. Die Gruppe von Schriftstellern und Schriftstellerinnen fand sich 1947 erstmals zusammen, um einander neu entstandene Texte vorzulesen, zunächst eine Art Schreibwerkstatt, die im Laufe der folgenden zwanzig Jahre zu dem Ort des bundesdeutschen Literaturbetriebs werden sollte. Teilnehmer wie Günter Grass, Heinrich Böll, Uwe Johnson und Martin Walser sind allseits bekannt, aber dass außer Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger auch viele weitere Autorinnen bei den Tagungen dabei waren, die nicht nur großartige Literatur verfasst haben, sondern deren Perspektiven sogar besonders brisant und erhellend sind, wurde bisher kaum gewürdigt. Wie Gabriele Wohmann, Gisela Elsner, Barbara König, Helga M. Novak, Ruth Rehmann und ihre Kolleginnen die Gruppe wahrgenommen haben, wie es ihnen dort erging und wie sie bald wieder aus der Literaturgeschichte herausgedrängt wurden, das erzähle ich in meinem neuen Buch (für das man über die Gruppe 47 übrigens nichts weiter wissen muss, das erzähle ich alles mit). Mehr auch dazu, wenn der Erscheinungstermin näher rückt.

Vielleicht noch ein Save the date für die ersten feststehenden Lesungen aus „Einige Herren sagten etwas dazu“ (übrigens ein Bachmann-Zitat): In Berlin lese ich am 13. Februar im Literarischen Colloquium, in Hamburg am 16. März im Centralkomitee (moderiert von Daniel Schreiber, worauf ich mich besonders freue) und am 28. März bin ich in der Stadtbibliothek Köln. Sobald die Veranstaltungen online sind und auch die Lesetermine in weiteren Städten feststehen, stelle ich alle Informationen unter dem Menüpunkt Veranstaltungen hier auf den Blog.

Danke fürs Lesen bis hierher, eine angenehme Adventszeit und viel Muße für diese und andere Bücher wünscht

Nicole Seifert

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

4 Kommentare zu „Newsletter: Lieblingsromane 2023 und ein Blick ins nächste Jahr

  1. Das neue Buch interessiert mich sehr, zumal ich mal vor einigen Jahren ein Interview mit Gabriele Wohmann hörte, wo sie leicht verbittert erzählte, dass die Herren von ihr das Kaffee kochen verlangten!

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  2. Herzlichen Dank für diese tollen Tipps und für die wunderbaren Wiederentdeckungen! Auf meiner Wunschliste sind sie fest vorgemerkt.

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  3. Der Roman »Marschlande« von Jarka Kubsova ist sehr zu empfehlen, auch aufgrund der historischen Verbindung. Man würde denken, dass sich vom 16. Jahrhundert bis heute doch vieles bzgl. der Frauenemanzipation verändert hat. Aber die Protagonistin Britta steht genauso vor dem Nichts wie Abelke Bleken, die als angebliche Hexe verbrannt wurde. Britta will mit der Freundin Ruth zusammen auf Abelke Bleken aufmerksam machen, denn »es gibt mehr als genug Frauen, die Bedeutendes geleistet haben. Aber sie verschwinden, die Erinnerung an sie verblasst schneller als an die von Männern, weil die Archive und das Gedenken an sie löchrig sind. Seitdem sammle ich sie, ich will sie wieder ins kollektive Gedächtnis holen.« (S. 135). Und genau das macht auch Jarka Kubsova, wenn sie einen Roman über Abelke Bleken schreibt und ihre Geschichte mit der der heutigen Britta verwebt. Dabei übt sie Gesellschaftskritik, die vor allem im Nachwort deutlich wird.
    Herzliche Grüße
    Margret

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