Es war überraschend leicht, aus meinen knapp neunzig gelesenen Büchern in diesem Jahr die zehn herauszusuchen, die mich am meisten begeistert haben, die herausstachen, von denen am meisten geblieben ist. Hier sind sie, kurz und knapp:
Tessa Hadley, Free Love / Freie Liebe
London, 1967, Eine verheiratete Frau und Mutter verliebt sich in einen jüngeren Mann. Das haben wir schon oft gelesen, von Männern, deren Protagonistinnen in der Folge dann abgestraft wurden, einsam wurden, anfingen zu trinken, in der Psychiatrie landeten oder gestorben sind. Nicht so bei Tessa Hadley, einer der Besten in Sachen Atmosphäre, zwischenmenschliche Beziehungen, Timing, ach, überhaupt. Ewige Lieblingsautorin. Deutsch von Christa Schuenke bei Kampa erschienen.
Natasha Brown, Zusammenkunft
Eine Schwarze Frau hat es geschafft, so scheint es. Sie arbeitet in der Londoner Hochfinanz, hat einen Freund, dessen Familie viel Geld hat – altes Geld, dreckiges Geld. Das ist die Ausgangslage. So konzentriert erzählt, so genau beobachtet, so scharf, dass man sehr klar sieht und es ziemlich wehtut. 114 Seiten, die eine große Wucht entfalten. Deutsch von Jackie Thomae bei Suhrkamp.
Julia May Jonas, Vladimir
Es geht um die Ehe einer Literaturprofessorin Ende fünfzig, die zusammen mit ihrem Mann an einem College an der US-amerikanischen Ostküste lehrt. Ganz früher habe ich John Updike geliebt, dann Julian Barnes, und was ich daran mochte – wie Menschen zusammenleben und sich lieben oder auch nicht, sich gegenseitig und sich selbst was vormachen oder eben nicht – das habe ich hier wiedergefunden, aus weiblicher, heutiger Perspektive. Deutsch von Eva Bonné unter demselben Titel bei Blessing erschienen.
Kristine Bilkau, Nebenan
Ein Roman in der Tradition der viktorianischen Gothic-Autorinnen UND in der Tradition Marlen Haushofers – mehr muss ich eigentlich gar nicht sagen, oder? Wie Kristine Bilkau hier mit den sehr zeitgemäßen Erfahrungen ihrer beiden Protagonistinnen literarische Motive großer Vorgängerinnen aufnimmt, das war für mich auf mehreren Ebenen ein großes Lesevergnügen. Ausführlicher habe ich hier darüber geschrieben.
Claire Keegan, Small Things Like These / Kleine Dinge wie diese
Irland, 80er Jahre. Eine Geschichte über eine Familie mit fünf Töchtern und über das Dorf, in dem sie leben. Mit wenigen Strichen wird hier erzählt, wie Menschen übersehen, was sie nicht wissen wollen, und weitermachen, als wäre nichts. Ein schmaler Roman, den man nicht so schnell vergisst, und der auf seine Weise sehr gut zu Weihnachten passt. Deutsch von Hans-Christian Oeser bei Steidl erschienen.
Yael Inokai, Ein simpler Eingriff
Eine zeitlose Geschichte von einer Krankenschwester, die langsam Zweifel bekommt an dem neuartigen Eingriff, der in ihrer Klinik durchgeführt wird, von zwei Frauen, die sich lieben, und die gemeinsam einen Plan in die Tat umsetzen. Auch hier geht eine Geschichte anders aus, als wir es gewohnt sind. So gut. So gern gelesen.
Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter
Die fast soziologische Betrachtung einer Familie in den 80er Jahren in der bundesdeutschen Provinz, eines heranwachsenden Mädchens und seiner Mutter. Eine sehr individuelle Geschichte über Mehrgewichtigkeit einerseits, eine sehr allgemeingültige über das Patriarchat andererseits. Innerhalb von 24 Stunden weggelesen, dieses wichtige, tolle Buch.
Elizabeth Strout, Lucy by the Sea
Strouts vierter Roman über Lucy Barton, die hier zusammen mit ihrem geschiedenen Mann während Corona in einem Haus an der Küste festsitzt. Ich liebe diese lose Reihe, deren Titel sich alle auch einzeln lesen lassen, wegen Elizabeth Strouts einzigartiger Art, so dermaßen down-to-earth über die einzelnen Beziehungen innerhalb einer Familie zu schreiben, so mitfühlend, so klug, so tröstlich, als wäre es einfach, so zu schreiben. Bisher nur auf Englisch, die früheren Bücher sind in der Übersetzung von Sabine Roth bei Luchterhand erschienen.
Julia Friese, MTTR
Im Vordergrund geht es hier um eine Frau, die ein Kind bekommt und versucht, all die Veränderungen zu reflektieren, die das mit sich bringt, sich darauf einzustellen. Dahinter geht es um viel mehr, nämlich darum, was unsere Mütter und Großmütter geprägt hat (Spoiler: Nazis), was sie dadurch weitergegeben haben und wo das gegenwärtig innerhalb der Familien noch zu finden ist. Großartiges, so wichtiges Buch.
Audrey Magee, The Colony
Eine irische Insel und die paar Menschen, die dort leben, wie sie immer gelebt haben. Und zwei miteinander konkurrierende Besucher, die die Moderne mitbringen und ihre eigenen Ansichten und Interessen. Eine kluge Parabel auf den Kolonialismus, sehr atmosphärisch, so gute Dialoge, so ein brennendes Thema – mein Lieblingsbuch des Jahres. Bisher leider nicht auf deutsch angekündigt.
..wie schön, endlich wieder Ihre Buchempfehlungen durchstöbern zu können, herzlichen dank!
Ich füge eine Empfehlung eines Buches hinzu, das mich selbst umgehauen hat. Herausgeberin ist die Ressortleiterin des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sandra Kegel.
»Prosaische Passionen: Die weibliche Moderne in 101 Short Stories«
so heißt das wundervolle Buch mit 101 Kurzgeschichten von vielen bekannten und vielen unbekannten Schriftstellerinnen weltweit. Außerdem: Es gibt ausführliche biografische Informationen zu diesen schreibenden Frauen. UND: Viele wunderbare Texte und Schriftstellerinnen zu entdecken. – Erschienen im Menasseverlag. Absolute Lese- UND Geschenkempfehlung.
Herzliche Grüße
Ann Salandre
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Danke. Ja, PROSAISCHE PASSIONEN ist ein tolles Buch, wollte ich hier auch noch vorstellen!
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Nice list! I also really liked the Keegan, Hadley, and Magee. (Maybe YOU should translate it!) Of the others I most want to read Kristine’s book.
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Actually, I did ask whether I could translate it, but the two publishing houses I asked didn’t want to publish it. I don’t get it!!
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Weird!!
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[…] or Die Nacht und Tag Lesen macht […]
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[…] es im Blogbeitrag Meine Lieblingsromane 2022 ausschließlich um Literatur von heute ging, sind diesmal die Klassikerinnen an der Reihe. In […]
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