„Diese Mischung aus Dämonie und Idylle“ 

In Nebenan ergründet Kristine Bilkau das menschliche Zusammenleben. Ein kluger, feiner Roman zum (Wieder)Erkennen und zum Schaudern.

Zwei Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen, die wenige Kilometer voneinander entfernt leben, sich zunächst nicht kennen und nicht allzu viel gemeinsam zu haben scheinen. Astrid ist Ärztin, ihre Kinder sind längst aus dem Haus, ihr Mann bereits in Rente, in absehbarer Zeit wird sie ihre Praxis abgeben, vieles geht zu Ende. Julia ist vierzig und gerade mit ihrem Mann aus Hamburg aufs Land gezogen, ein Neuanfang. Das Paar möchte ein Kind bekommen, mittlerweile mit medizinischer Hilfe. Weil sie auf ihre CO2-Bilanz achten, versuchen sie in dem winzigen Dorf, in dem sie ein Haus gekauft haben, ohne Auto auszukommen. Wer aus dieser Zusammenfassung schließt, in Nebenan werde satirisch zugespitzt, zeit- oder milieutypische Verhaltensweisen würden zum Zweck des Amüsements bloßgelegt, ist auf der falschen Spur. Kristine Bilkau macht genau das Gegenteil. Ihr – unendlich viel schwierigeres – Anliegen ist es, zu ergründen und nachvollziehbar zu machen, was ihre Figuren im Innersten umtreibt, und das gelingt ihr aufs Wunderbarste. Nebenan ist ein Geflecht aus Geschichten und Motiven, das es in sich hat, ein Roman von hoher Dichte, der nach einem stillen Anfang eine zunehmende Wucht entfaltet.

Tatsächlich herrscht nicht nur in Astrids Leben Endzeitstimmung, auch Julias Neubeginn wird davon beeinträchtigt, dass Dinge zu Ende gehen. Ihre Keramikwerkstatt eröffnet sie zwischen lauter aufgegebenen und verrammelten Geschäften, zwei der sieben Häuser rund um ihr neues Heim wurden in den letzten Monaten entrümpelt. Auch das Nachbarhaus, ein großer Gelbklinker, in dem gerade noch eine Familie mit mehreren Kindern lebte, ist plötzlich verwaist. Weggezogen zu sein scheint sie allerdings nicht, denn im Haus stehen noch Möbel und Pflanzen, aber für einen Urlaub ist sie schon zu lange weg. Julia erinnert sich an die Erschöpftheit der Frau, die Ruppigkeit ihres Partners und ist beunruhigt, weiß nicht, ob sie etwas unternehmen sollte.  

Das verlassene Haus nebenan ist das erste Motiv, das die beiden Erzählstränge verbindet, denn auch Astrid macht sich Gedanken über die Frau aus dem Gelbklinker, in dessen Nachbarschaft sie aufgewachsen ist. Der Gedanke, dass häusliche Gewalt im Spiel sein könnte, liegt für sie nicht fern, als Ärztin hat sie regelmäßig mit Frauen zu tun, deren Verletzungen nicht eindeutig zuzuordnen sind, und mit Männern, deren Bedrohlichkeit sie – etwa bei Hausbesuchen – versuchen muss einzuschätzen. Situationen, die um so brisanter sind, als sie leicht selbst Opfer dieser Männer werden könnte und es um ein Haar schon geworden wäre. In diesen Situationen mit Patientinnen treibt auch Astrid die Frage um: Wann ist es ungebetene Einmischung, wann ist es Weggucken, ab welchem Punkt muss Verantwortung übernommen werden? Sie ist sich sicher, dass viele ihrer männlichen Kollegen in den Fällen, in denen ihr mittlerweile geschultes Auge häusliche Gewalt erkennt, nicht mal einen Verdacht hegen, geschweige denn die Polizei einbeziehen würden.

Bilkaus Protagonistinnen führen gute Ehen, bei beiden wird jedoch eine familiäre Vorgeschichte mit gewalttätigen Männern angedeutet, die sie selbst gar nicht so genau kennen, schließlich wird über männliche Gewalt besser geschwiegen. Die Rätsel, die der Roman hier stellt, lohnen eine sehr genaue, auch eine zweite Lektüre. In der vorigen Generation gibt es bei Astrid und bei Julia Frauen, die gegangen sind, die den Ehemann verlassen haben oder den Großvater, bei dem sie aufwuchsen. Frauen, die sich retten mussten, denen es allein dann besser ging. Dass Frauen von Männern bedroht werden oder doch ständig in Angst vor dieser Bedrohung leben, immer darauf achten müssen, in welche Situationen sie geraten könnten, ist in diesem Roman so unterschwellig omnipräsent wie in der Realität auch. 

„Auf den ersten Blick sind es schöne Impressionen von der Küste, doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich das Plastik. Wie Suchbilder, die das Auge auffordern, finde den Fehler.“


Um so interessanter, dass die bisherigen größeren Feuilleton-Besprechungen von Nebenan (soweit alle von Männern verfasst) dieses alles grundierende Thema des Romans mit keinem Wort erwähnen. Wie kann das sein? Müsste man sich dann als Rezensent, als Mann dazu verhalten? Ist das zu unangenehm? Oder wurde das Thema tatsächlich nicht erkannt? Schwer vorstellbar, denn Kristine Bilkaus Texte sind zwar subtil, aber nicht kryptisch. Die Literaturkritiker reproduzieren auf diese Weise genau das, wovon der Roman handelt: die gesellschaftliche und politische Blindheit gegenüber der massiven männlichen Gewalt an Frauen. Wovon in besagten Besprechungen leider auch keine Rede ist: von den literarischen Bezügen, an denen Nebenan so reich ist, den vielen klug gesetzten Anspielungen, die einen Echoraum literarischer Ahninnen eröffnen.

Da sind die unsensiblen bis abfälligen Kommentare der anderen, die Julia so verinnerlicht hat, dass sie sie auch hört, wenn überhaupt niemand da ist: „Nicht jede Frau muss eigene Kinder –“, „Vielleicht gibt dein Körper dir ein Zeichen, das du nicht ignorieren –“ So wie eine von Ursula Krechels Protagonistinnen, sobald sie sich zu Wort melden will, eine innere Stimme hört: „Halt’s Maul.“ Da sind die Frauen, die in der Natur leben, „im Grünen“, im Wald, wie Marlen Haushofers Protagonistin in Die Wand. Gilt das auch für die verschwundene Nachbarin, die Julia verfolgt wie ein Geist? Dass nebenan niemand ist, beunruhigt sie zutiefst. Der Gedanke, keine Menschen um sich zu haben, löst ein schwer erträgliches Gefühl der Verlassenheit in ihr aus, dem ihr Widerwille gegenübersteht, aktiv auf Menschen zuzugehen – Themen des Existenzialismus, die Kristine Bilkau so elegant wie überzeugend in ihren Roman gewoben hat. 

Die einzig mögliche Antwort auf diese existenzielle Zerrissenheit bieten in Nebenan immer wieder kleine Momente gelungenen Zusammenseins, die Gewissheit, dass da jemand ist, sei es der Ehepartner, die verloren geglaubte Freundin, die Nachbarin, die einen im Blick hat. Eine wunderbare Metapher ist das erinnerte Kindheitsspiel, bei dem es darum ging, mit verschlossenen Augen zu erraten, ob die anderen noch neben einem sitzen oder sich davongeschlichen haben. Aber dem wärmenden, tröstlichen Gefühl, wenn neben einem noch jemand saß, steht im Roman immer auch das andere „Ist da jemand?“ gegenüber, das ängstliche, bedrohte; beides ist in Nebenan unauflöslich miteinander verbunden. 

Und hier reicht die literarische Tradition, in der Bilkau steht, zurück bis zu viktorianischen Autorinnen wie Charlotte Perkins Gilman, auf deren Erzählung Die gelbe Tapete im Text mehrfach angespielt wird (und auch mit dem gelungenen Cover). In dem damals zunächst als reine Schauererzählung missverstandenen Text geht es um ein großes, verlassenes Haus, in dem sich eine Frau verfolgt fühlt, während ihr Mann – wie Julias Mann – gar keinen Grund zur Sorge erkennen kann, sodass sie lernt, ihrer eigenen Wahrnehmung zu misstrauen. Wie auch Julia sich bald fragt, „was ihre Wahrnehmung eigentlich taugt.“ Sind es in den viktorianischen Erzählungen traditionell die Frauen, die am Ende den Verstand verlieren und sterben, deutet Kristine Bilkau an, dass auch ein anderes Ende möglich wäre. Nicht nur mit den Frauen, die allein leben oder in die Natur ziehen. Die weise Frau, die Astrid großgezogen hat, enthüllt am Ende etwas, das ich hier auf keinen Fall verraten werde. Ich möchte nur einfach nochmal an Marlen Haushofer erinnern, der es – was ich auch Kristine Bilkau unterstelle – darum ging „diese Mischung aus Dämonie und Idylle“ „glaubwürdig zu gestalten“, auf die sie „unentwegt stoße“. Ihr sogenannter Mentor Hans Weigel riet Haushofer, ihr erstes Manuskript nicht zu publizieren, das diese daraufhin offenbar vernichtete – ein unermesslicher Verlust. Es handelte Weigel zufolge davon, dass ein paar Frauen einen Mann unter die Erde bringen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aus welchen Gründen Haushofers Protagonistinnen diesen Mord begangen haben, hat Hans Weigel leider nicht überliefert, das Motiv für diese Tat schien ihm wohl keine Rolle zu spielen. Männliche Gewalt? Besser nicht drüber reden!

Nicole Seifert

Nebenan von Kristine Bilkau


Kristine Bilkau
Nebenan
Roman
Luchterhand Literaturverlag
288 Seiten
22 Euro

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

6 Kommentare zu „„Diese Mischung aus Dämonie und Idylle“ 

  1. Danke sehr, das war wieder eine kluge Rezension, die mir sehr viel Lust gemacht hat auf das Buch! Als große Fan der „Yellow Wallpaper“ muss ich gleich mal los zur Buchhandlung…
    PS: Der von Ihnen empfohlene Roman „Gesammelte Werke“ von Lydia Sandgren hat mir gut gefallen! Danke auch für diese Empfehlung!

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  2. Ganz ganz tolle Besprechung zu diesem leisen, feinen Buch! Ich habe alle Romane der Autorin gelesen und finde jedes einzelne auf seine Art grandios!

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