Nachdem es im Blogbeitrag Meine Lieblingsromane 2022 ausschließlich um Literatur von heute ging, sind diesmal die Klassikerinnen an der Reihe. In letzter Zeit haben sich einige Verlage der Wiederentdeckung vergessener Autorinnen gewidmet und tolle Projekte realisiert, und an einigen davon durfte ich auf die ein oder andere Weise mitarbeiten.
Riesig gefreut habe ich mich, als vor einem guten Jahr der Arche Verlag anfragte, ob ich Shirley Jacksons komischen Roman über ihr Familienleben aus dem Englischen übersetzen möchte, der inzwischen unter dem Titel Krawall und Kekse erschienen ist. Shirley Jackson (1916-65), die in den USA berühmt ist für ihre abgründige, mit Horrorelementen arbeitende Literatur, zeigt in diesem humorvollen Text über das Leben mit kleinen Kindern in den 50er Jahren eine ganz andere Seite. Der Frage, wie diese zwei so unterschiedlichen Facetten ihres Werks zusammenpassen, bin ich in einem Nachwort nachgegangen, das auch hier zu lesen ist. Ein Roman zum laut Lachen und zum Gruseln (weil sich so erschreckend wenig geändert hat), der die unterschiedlichsten Leser*innen begeistert, egal in welchem Alter und ob mit oder ohne Kinder.

Ein Buch, auf das ich sehr gespannt war ist Prosaische Passionen, Die weibliche Moderne in 101 Short Stories. Die Literaturkritikerin Sandra Kegel hat für den Manesse Verlag Kurzgeschichten von Autorinnen aus 25 Sprachen zusammengestellt und zum Teil erstmals übersetzen lassen, um zu zeigen: Anders, als es bisherige Anthologien und Literaturgeschichten glauben machen, war die Moderne ganz wesentlich weiblich. Frauen haben auch um das Jahr 1900 herum nicht nur überall auf der Welt geschrieben, sie haben weibliches Leben literaturfähig gemacht und die Literatur verändert. Ein reichhaltiger und dabei wunderschöner Band, durch den ich mich nach und nach lese und für den ich die großartige Erzählung „Etwas Besonderes“ von Iris Murdoch übersetzt habe.

In diesem Monat jährt sich der Todestag von Katherine Mansfield zum hundertsten Mal, einer der ganz großen Autorinnen der Moderne, die hierzulande eher ein Schattendasein führt. Für die Frankfurter Allgemeine habe ich unter der Überschrift „Ich brauche Macht, Reichtum, Freiheit“ über Mansfields turbulentes, allzu kurzes Leben (1888-1923) geschrieben und darüber, was das Besondere an ihren Erzählungen ist, die noch heute ins Mark treffen. Mansfield war von Anton Tschechow beeinflusst, hat ihrerseits ihre Kollegin Virginia Woolf mit ihrem Schreiben beeindruckt und ist Vorbild mancher zeitgenössischen Autorin. Der Manesse Verlag hat aus Anlass des Jubiläums den Erzählungsband Die Gartenparty in der Übersetzung von Irma Wehrli und mit einem Nachwort von Julia Schoch neu herausgebracht, und bei der Büchergilde Gutenberg ist eine illustrierte Ausgabe ihres Erzählungsbandes In einer deutschen Pension erschienen, übersetzt und mit einem biografischen Essay von Elisabeth Schnack.


Ich liebe es, zwischen den Jahren ein richtig dickes Buch zu lesen, vor drei Jahren war es Middlemarch, vor zwei Jahren Gesammelte Werke von Lydia Sandgren. In diesem Jahr waren es die vier zusammengehörigen Romane von Amalie Skram, die gerade im Guggolz Verlag erschienen sind. Die Norwegerin Amalie Skram (1846-1905) malt mit Die Leute vom Hellemyr ein Panorama der Stadt Bergen im neunzehnten Jahrhundert. Wir machen die Bekanntschaft einiger Familien aus unterschiedlichen Milieus, die durch Arbeits-, Freundschafts- und Liebesverhältnisse miteinander verbunden sind und begleiten sie über ein ganzes Leben hinweg. Fesselnd geschrieben, mit unverwechselbar lebendigen Figuren entwickelt die Reihe schnell einen großen Sog – kein Wunder, dass die Bücher in Norwegen bis heute viel gelesen werden. Irgendwo stand „Besser als eine Netflix-Serie“ und das kann ich nur unterschreiben. Noch zusätzlich interessant: die Nachworte der Übersetzerinnen Christel Hildebrandt, Nora Pröfrock und Gabriele Haefs, die dieses Werk nun endlich auch deutschen Lesenden zugänglich machen.

Zum Schluss noch zweierlei zum Hören: Über den Roman Sturmhöhe / Wuthering Heights von Emily Brontë habe ich mit dem Journalisten Ralf Schlüter gesprochen, der sich für seinen Podcast Zeitgeister jeweils ausgehend von einem Song bestimmte Themen und Phänomene genauer anschaut. In unserem Fall ging es um den Song Wuthering Heights von Kate Bush, mit dem sie den Roman um die Perspektive seiner früh verstorbenen Protagonistin Kathy ergänzt. Wir haben über diese beiden erstaunlichen Künstlerinnen gesprochen (Kate Bush war 19, als sie den Song schrieb), über die Perspektive von Frauen in der Literatur und über Texte, die andere Texte aufnehmen und weiterschreiben – eine halbe Stunde, die hier nachzuhören ist.
Und noch etwas, das die unmittelbare Gegenwart betrifft: In der Sendung Lesart wurden der Hanser-Verleger Jo Lendle und ich gestern dazu befragt, wie drei Jahre nach #vorschauenzählen der aktuelle Autorinnenanteil in den Verlagsvorschauen ist und was sich auf dem Gebiet gerade tut.
Nicole Seifert
Amalie Skram ist sicher eine Entdeckung, das konnte man schon an »Professor Hieronimus« von ihr erkennen, was 2016 ebenfalls bei Guggolz herauskam. Darin geht es um die besondere Diskriminierung, die Frauen durch die damaligen »Halbgötter in Weiss erfahren.
Auf die »Leute von Hellemyr« bin ich auch von daher sehr gespannt, kann ich aber erst lesen, wenn unsere Tochter (Weihnachtsgeschenk!) es durch hat 😦
Man kann dazu noch bemerken, dass die »Leute von Hellemyr« wohl für einen typischen skandinavischen Slægtsroman stehen. Andere Vertreter dieser Gattung sind »Kristin Lavranstochter« von Sigrid Undset, aber auch (aktueller) die »Dina Triologie« der Herbjørg Wassmo. Gerade diese drei Bände mit einer einmalig starken Frauenfigur, eben der Dina, werden in der Kategorie des »weiblichens bisher unverständlicherweise weitgehend vernachlässigt.
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Danke für diese Hinweise, spannend!
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Der Artikel in der Frankfurter Allgemeine zum 100. Todestag von Katherine Mansfield ist sehr interessant. Ich habe ihre Kurzgeschichten auch sehr gerne gelesen, weil sie sehr empfindsam die Alltagssituationen von Frauen beschreibt, auch deren unglücklich sein, und häufig erst mit den letzten Sätzen der Aha Effekt erfolgt im positiven oder auch negativen Sinne für die Frau und die Leserin. Im Artikel wird betont, dass heute Kirsty Gunn, Ali Smith und Kristine Bilkau zu ihren Verehrerinnen gehören. Ich möchte eine Verehrerin ergänzen: Zum 100. Geburtstag von Katherine Mansfield veröffentlichte Christa Moog ihr Buch „Aus tausend grünen Spiegeln“. Christa Moog reiste auf den Spuren der neuseeländischen Schriftstellerin Katherine Mansfield (1888 – 1923) nach Paris, London, Italien und Neuseeland. Das kurze, atemlose Leben dieser unkonventionellen Frau spiegelt sich in „Aus tausend grünen Spiegeln“. Dieses Buch wurde von Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett äußerst positiv rezensiert, sie erhielt für dieses Buch 1988 den Aspekte-Literaturpreis.
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Danke für den Hinweis auf Christa Moog, das Buch war mir tatsächlich entgangen – klingt gut.
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In den 50er Jahren wäre ich auch gerne mal einen Tag;)
Abraham
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