Bücherfrühling 2023 –Highlights

Drei Romane aus diesem Bücherfrühling haben es mir besonders angetan, und alle eint ein Thema: die deutsche Geschichte, die in den Büchern von Brigitte Reimann, Anne Rabe und Antonia Baum viel mehr als den Hintergrund für Figuren und Handlung bildet.

Eine kleine Sensation ist die Neuausgabe von Brigitte Reimanns Roman Die Geschwister. Das Buch erschien erstmals 1963 in der DDR und wurde dort eins der meistdiskutierten Bücher. Aus Sicht einer 24-jährigen Malerin, die in einem Braunkohlekombinat arbeitet, wird erzählt, wie ihre beiden Brüder kurz vor dem Bau der Mauer der DDR den Rücken kehren, um in Westdeutschland zu leben, während sie selbst vom Sozialismus überzeugt und voller Idealismus ist. Reimann war die erste Autor*in, die sich traute, die Konflikte und Verletzungen, die solche Entscheidungen für die Familien bedeuteten, im SED-Staat literarisch darzustellen. Wenig verwunderlich, dass der Großteil der systemkritischen Textstellen damals nicht durch die Zensur ging. Weil bei Sanierungsarbeiten im ehemaligen Wohnhaus Brigitte Reimanns in einem Keller in Hoyerswerda Anfang 2022 das Originalmanuskript gefunden wurde, ist Die Geschwister nun in einer von Angela Drescher und Nele Holdack verantworteten Neuausgabe erstmals so zu lesen, wie die Autorin den Text ursprünglich gedacht hatte.

Von den Spuren, die die SED-Diktatur bei den Menschen hinterlassen hat, erzählt Anne Rabe in ihrem gerade erschienenen Roman Die Möglichkeit von Glück. Ihrer Protagonistin Stine, die in den 1980er Jahren noch in der DDR geboren wurde und im wiedervereinten Berlin aufwuchs, stellen sich viele Fragen, die zum Beispiel das familiäre Miteinander und ihre Erziehung betreffen. Von ihrer Familie bekommt sie auf diese Fragen keine Antworten, dort herrscht undurchdringliches Schweigen. Also macht sie sich auf die Suche, beobachtet die politische Gegenwart und ihre Umgebung genau, forscht nach, folgt den Spuren der Gewalt und stellt so Zusammenhänge her zwischen dem Heute und den zwei totalitären Systemen der deutschen Vergangenheit. Das entlarvt nicht nur die Annahme als Mythos, Deutschland hätte seine Geschichte vorbildlich aufgearbeitet, es wird auch deutlich: Es kann noch so viel verschwiegen werden – es ist trotzdem alles da. Zeit, es auch anzusprechen. Das tut Anne Rabe mit diesem Buch, das ich sehr gern gelesen habe, dringend empfehle und dessen Themen unbedingt auf die Agenda gehören.

Das literarische Highlight dieses Lesejahres ist für mich bisher Siegfried, der neue Roman von Antonia Baum. Auf wenig Raum gelingt der Autorin hier ein Sittenbild der alten und neuen Bundesrepublik. Die drei Frauenfiguren aus drei Generationen umschwärmen ihr Zentrum: Siegfried. Sohn der einen, Ehemann der anderen, Stiefvater der Ich-Erzählerin. Siegfried ist der Macher, der Held, er hat die Macht und das Geld. Seine Mutter Hilde verehrt ihn, für sie ist er der Größte. Seine Frau hat eine etwas ambivalentere Haltung zu ihm, ordnet sich ihm aber lange unter, und seine Stieftochter, die ebenfalls nach seinen Erwartungen und Werten lebt, fragt sich, was damals eigentlich genau passiert ist zwischen Siegfried und ihrer Mutter und warum sie selbst sich als Heranwachsende dazu so verhalten hat, wie sie sich verhalten hat. Das alles ist nicht nur so großartig, weil die Figuren und ihr Verhältnis zueinander so gelungen sind, sondern auch, weil die Fragen, die diese Geschichte aufwirft, so interessant sind. Denn auch hier geht es letztlich um Formen der Gewalt und um Schweigen, um das Erbe des Faschismus in den Familien der Nachkriegsjahrzehnte, um erhalten gebliebene Machtstrukturen auch zwischen den Geschlechtern und um die Frage, wie das heute ist. Kann der Versuch, es anders zu machen, gelingen, ohne durchdrungen zu haben, was damals war? Was, wenn bei dem Versuch, es zu durchdringen, entscheidende Personen nicht mitmachen (können)? Antonia Baums Erzählerin wird durch diese ganze Gemengelage fast zerrissen, schließlich hat sie auch noch ein gegenwärtiges Leben, eine Tochter, einen Mann und einen Beruf. Siegfried ist ein unglaublich starker Roman – in den Figuren, im Plot, in den Fragen, die er aufwirft, in den Motiven und der Metaphorik. Auf meinem Instagram-Account nachtundtag.blog ist ein einstündiges Gespräch mit Antonia Baum nachzuschauen, in dem wir einige dieser Motive ansprechen und in dem sie drei kurze Textstellen liest. Ein Roman, dem ich alle möglichen Preise dieser Saison wünsche.

Zum Schluss noch ein neu erschienenes Sachbuch, das mir besonders am Herzen liegt. Die Stichworte Heldenverehrung und deutsche Geschichte passen auch hier gar nicht schlecht. In Muss ich das gelesen haben? führt Teresa Reichl die dringend notwendige Diskussion über unsere patriarchale und unzeitgemäße Schullektüre, die ich auch in Frauen Literatur angerissen habe, weiter. Mit viel Sachverstand und genauso viel Humor (sie ist auch Kabarettistin) nimmt sie sich die Texte vor, die derzeit an den Schulen gelesen werden (müssen) und zerpflückt, worum es darin eigentlich geht, was den Kindern und Jugendlichen da implizit vermittelt wird und schlägt vor, wie wir das jetzt ändern. Sehr informativ und sehr komisch. Pflichtlektüre für Deutschlehrer*innen und alle, die es werden wollen, aber auch bestens für Schüler*innen geeignet – eigentlich für alle.

Nicole Seifert

Brigitte Reimann
Die Geschwister
Roman
Hg. v. Angela Drescher und Nele Holdack
Aufbau Verlag
224 Seiten
€ 22,-

Anne Rabe
Die Möglichkeit von Glück
Roman
Klett-Cotta
384 Seiten
€ 24,-

Antonia Baum
Siegfried
Roman
Claassen Verlag
256 Seiten
€ 24,-

Teresa Reichl
Muss ich das gelesen haben? Was in unseren Bücherregalen und auf Literaturlisten steht – und wie wir das jetzt ändern
Haymon Verlag
232 Seiten
€ 17,90

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

Ein Kommentar zu „Bücherfrühling 2023 –Highlights

  1. Vielen Dank für den Hinweis auf „Muss ich das gelesen haben?“. Kam sofort auf den Einkaufszettel und ich wünschte, irgendjemand würde den Kultusministerien mal ein Leseexemplar zukommen lassen 🙂 Liebe Grüße Anna

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