Es ist das Frühjahr der schmalen Meisterwerke und der großen Würfe junger Autorinnen. Aber bevor ich zu Natasha Brown, Marie-Hélène Lafon, Fatma Aydemir und Yael Inokai komme, noch kurz ein paar Anmerkungen in eigener Sache.
Auf dem Blog ist es immer noch sehr ruhig, weil gerade viel woanders stattfindet, deshalb vorab wieder ein paar Links zu diesen anderen Inhalten. Für den Basler Blog The Art of Intervention habe ich über die Frage geschrieben, warum es so wenige Autorinnen in den Kanon geschafft haben. Wer also Frauen Literatur (etwa) noch nicht gelesen hat und in aller Kürze wissen möchte, worum es geht: bitte hier entlang. Für den Blog der Münchner Stadtbibliothek habe ich über die Autorin Christa Reinig geschrieben, geboren 1926 in Ostberlin, gestorben 2008 in München, deren Leben „gepflastert war mit Ideologien, durch die [sie] hindurch musste wie durch die Masern“. Eine in feministischer wie ästhetischer Hinsicht radikale Stimme – hochinteressant und leider fast schon wieder vergessen.
Dann war ich zu zwei Podcasts eingeladen. In Die Alphabeten habe ich in sehr netter Atmosphäre lange mit dem Schriftsteller Sebastian Stuertz und dem Journalisten Gerrit Jöns-Anders gesprochen, über die Idee zu Frauen Literatur, über das Schreiben, das Lesen und meinen Vater, über den Status quo und was man denn nun tun kann, damit sich mal was ändert. Das war sehr gemütlich – zum Hören der zwei Teile braucht man auch etwas Muße. Deutlich pointierter habe ich mich in Lakonisch Elegant mit Johannes Nichelmann von Deutschlandfunk Kultur und Simon Sahner von 54books.de über Geniekult und Männlichkeit unterhalten, darüber, ob Genies eigentlich noch zeitgemäß sind und was an ihre Stelle getreten ist oder treten könnte.
Die für Januar und Februar geplanten Lesungen habe ich wegen der hohen Corona-Inzidenzen abgesagt, im März traue ich mich nun und fahre für Veranstaltungen nach Gießen, Mannheim und Freiburg, nach Norderstedt, Bremen und Düsseldorf. Für Details und Tickets bitte hier entlang. Bis zum Sommer sind noch geplant: Berlin und Wien, Eislingen, Münster, Hannover und Magdeburg. Unter dem Reiter „Veranstaltungen“ auf dem Blog wird das immer rechtzeitig genauer nachzulesen sein.
Eine meiner liebsten Übersetzungsarbeiten, der Roman Schlaflos von Sarah Moss, ist endlich als Taschenbuch erschienen. Eine verlassene schottische Insel, eine junge Familie und ein alter Kriminalfall, der plötzlich sehr aktuell wird – wer mehr wissen möchte: Ich habe den Roman hier schon mal vorgestellt.

Deutsch v. Nicole Seifert
Unionsverlag 490 S. 15 €
Aber jetzt endlich zu den neuen Büchern. Ich habe von den bisher erschienenen Frühjahrsneuerscheinungen schon einige lesen können, gar nicht so wenige abgebrochen, aber auch ein paar Perlen entdeckt. Nämlich diese:
DSCHINNS, den neuen Roman von Fatma Aydemir, eine Familiengeschichte, die 1999 und in den Jahrzehnten davor zwischen Istanbul und einer fiktiven westdeutschen Stadt spielt und schnell einen großen Sog entwickelt. Die Familie Yilmaz ist 1979 aus ihrem türkischen Bergdorf nach Deutschland ausgewandert, eine Tochter bleibt zunächst zurück, um sich um die Großeltern zu kümmern, ein Nachzügler kommt erst in Deutschland zur Welt. Fatma Aydemir gibt jeder ihrer sehr lebendigen, glaubwürdigen Figuren ein Kapitel mit eigener Perspektive – klug komponiert, sodass sich nach und nach zusammensetzt, wer warum welche Probleme (mit wem) hat, worüber warum nicht gesprochen wird und was eigentlich passiert ist. Das alles durchdringende Thema sind die Dschinns, „die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ Ein Roman mit einem unerwarteten Ende, das ich nach kurzem Überlegen genau richtig finde.

Hanser 368 S. 24 €
Sehr selten gibt es Bücher, die sich lesen wie Klassiker, obwohl sie gerade erst erschienen sind. Yael Inokais EIN SIMPLER EINGRIFF ist so ein Buch. Ein schmaler Roman von großer Dichte und Eindringlichkeit, elegant und klar, sinnlich und zeitlos. Der Krankenschwester Meret wird von einem Gehirnchirurgen die Betreuung von Patientinnen übertragen, an denen er einen neuartigen Eingriff durchführt – eine Aufgabe, die Merets Glauben an die Medizin herausfordert. Sensationell gut gelungen ist die Beschreibung der Liebe zu ihrer Zimmergenossin, insbesondere die Liebesszenen. Wie all das auf wenig Raum zusammengespannt wird, ohne ein Wort zu viel oder zu wenig, alles an seinem Platz, das ist wirklich große Kunst. Ich bin voller Bewunderung.

Roman Hanser Berlin 192 S. 22 €
Auch Marie-Hélène Lafons GESCHICHTE DES SOHNES, aus dem Französischen übersetzt von Andrea Spingler, ist ein schmales Meisterwerk. Auf gerade mal 150 Seiten fächert Lafon über hundert Jahre hinweg die Geschichte einer französischen Familie auf, insbesondere die einer alleinstehenden Frau und ihres Sohnes. Besonders beeindruckt hat mich hier der Stil, der etwas im besten Sinne Cleanes, Archaisches hat, das auch den Figuren entspricht. Die Autorin respektiere das Geheimnis ihrer Figuren, hieß es im Le Figaro Littéraire, arbeite sie heraus wie die Figuren eines Basreliefs, und tatsächlich wird hier nichts erklärt, schon gar nicht psychologisch, sondern einfach hingestellt, in aller Klarheit, Komplexität und Fraglosigkeit. Das hat eine große Kraft und entwickelt ebenfalls einen großen Sog.

Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Rotpunkt Verlag 152 S. 22 €
DAS Buch der Stunde ist für mich Natasha Browns ZUSAMMENKUNFT, aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Jackie Thomae. Das Debüt der Mathematikerin Natasha Brown, die zehn Jahre lang im Londoner Finanzsektor arbeitete, nimmt sich gnadenlos scharf und genau die heutige britische Klassengesellschaft vor, die Mechanismen, die dazu führen, wer aufsteigt und wer nicht, die auch dazu führen, dass die Protagonistin als Schwarze Klassenaufsteigerin besondere Chancen hat, die sie aber bitte auch als im Grunde unverdient anerkennen möge. Wie Natasha Brown hier über Aggression und Ansprüche schreibt, über Verwundungen und Nichtmehrkönnen, über Überleben, Identität, Distinktionsbedürfnisse – das gab es so noch nicht. Eine bittere, großartige Lektüre, für mich das Must read der Saison.

Aus dem Englischen von Jackie Thomae
Suhrkamp Verlag 113 S. 20 €
Nicole Seifert
Interesting. Danke für diese interessanten Buchvorstellungen! Herzlichst aus Zürich. A.
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[…] sich in der Literatur niederschlägt. Und natürlich über Ein simpler Eingriff von Yael Inokai (hier kurz besprochen) und Ein Spalt Luft von Mischa Mangel, einem Roman, in dem sich der Ich-Erzähler […]
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