Enid Blytons „Dolly“ revisited

Das Büchertagebuch, das ich mit elf Jahren anfing zu führen, beginnt mit Enid Blytons Dolly. Ich las im Winter Band 1 bis 12,  wiederholte das Ganze im nächsten Winter samt des neu erschienenen 13. Bandes und im Jahr darauf nochmal samt des neuen 14. Bandes. Dann hörte ich damit auf, ab 1986 verstaubten die Dolly-Bücher neben den noch zahlreicheren Hanni-und-Nanni-Büchern in meinem Regal. Trotzdem zogen sie Jahrzehnte lang jedes Mal wieder mit mir um, sie gehörten irgendwie zu mir, und ich wünschte mir, dass sie eines Tages auch meine Tochter lesen würde, lange bevor ich eine Tochter hatte.

Dass Dolly für mich das größere Identifikationspotential hatte als Hanni und Nanni kann daran gelegen haben, dass Dolly eben kein Zwilling war, sondern eine jüngere Schwester hatte, wie ich. Vielleicht auch ein bisschen daran, dass sie schlecht in Mathe war und gut im Schreiben, oder daran, dass sie sich so sehr eine beste Freundin wünschte. Rückblickend erinnere ich mich an zwei Dinge, die mich besonders interessierten. Dolly war „jähzornig“, sie hatte manchmal Wutanfälle, die sich nicht unterdrücken ließen, was ich irgendwie nachvollziehbar fand. Und sie war, anders als Hanni und Nanni, bei denen sich die Schulzeit ewig hinzieht, relativ bald mit der Schule fertig und zog als junge Erwachsene ins Leben, lernte einen Mann kennen, ergriff einen Beruf – das fand ich spannend.

Erst später wurde mir klar, dass die Bücher ursprünglich für eine frühere Frauengeneration geschrieben worden waren. Zwischen dem Verfassen der Bücher und meiner Lektüre hatte die zweite Welle der Frauenbewegung stattgefunden, und dementsprechend antiquiert war das dort erzählte Frauenleben. Ich wurde zwar mitten in der zweiten Welle der Frauenbewegung geboren, wuchs dann aber in eine Zeit des Backlash hinein, die Rollenverteilung meiner Eltern war konventionell, meine Mutter Hausfrau – mir erschienen diese Geschichten nicht besonders unzeitgemäß. Bevor ich den ein oder anderen Dolly-Band für diesen Text nochmal lese, frage ich mich vor allem: Wie werden Dollys Wutausbrüche in den Büchern eigentlich begründet? Haben sie vielleicht genau mit diesen Rollenerwartungen und Ungerechtigkeiten zu tun?

Was mir beim Lesen des ersten Bandes sofort unangenehm auffällt, ist die Bewertung des Verhaltens der Mädchen durch die Erzählstimme. Dolly findet sich hübsch in ihrer Schuluniform, was ihre Mutter lächelnd zur Kenntnis nimmt. Bald wird jedoch anhand der Geschichte eines anderen Mädchens dagegengesetzt: Diese Zufriedenheit mit sich darf auf keinen Fall größer werden. Zu viel Kleidung ist ein Zeichen von Eitelkeit, offen getragene lange Haare zeugen von Stolz – und das sind bei einem Mädchen unerwünschte Eigenschaften. Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein – so stand es ja auch in meinem Poesiealbum. Als die Mitschülerin mit dem wallenden Haar, an der das exemplifiziert wird, sich beim Abschied weinend an ihre Mutter klammert, wird kommentiert: „Die Mutter war fast genauso schlimm wie das Mädchen. Auch ihr liefen die Tränen übers Gesicht.“ Es folgen weitere Abwertungen emotionalen Verhaltens, dagegen gesetzt werden „vernünftige“ Mütter, die „einen sehr sympathischen Eindruck“ machen, „heiter und fröhlich“ aussehen. Die Dichotomien im Mittelpunkt der nächsten Kapitel machen dann restlos klar: wer weint ist selbstmitleidig, schwächlich, ängstlich, verzogen, uneinsichtig.

Gefühlskälte ist kein Zeichen von Vernunft.

Hannah Arendt

Dagegen steht das Ideal des verständigen, vernünftigen Mädchens, das seinen Gefühlen nicht nachgibt, sich problemlos anpasst und eingliedert. In fast jedem Band wird es von der Direktorin für die neuen Mädchen im Internat – und für die neuen Leserinnen – ausbuchstabiert: „Ich halte es nicht für das Wichtigste, daß Ihr Wissen erlangt und das Examen besteht, obwohl das gut ist. Unser Stolz sind die Schülerinnen, die gelernt haben, freundlich und hilfsbereit zu sein und feinfühlige Menschen zu werden, auf die in jeder Beziehung Verlaß ist.“ Ganz im Sinne der Geschlechtscharaktertheorie des neunzehnten Jahrhunderts und der Anstands- und Lebenshilfebücher, die dazu dienten, sie den Frauen nahezubringen, geht es hier darum, Mädchen ihre Pflichten und Grenzen zu zeigen, sie auf ihre Rolle als Unterstützerin des Mannes einzuschwören. Sie sollen gute Frauen werden, also nicht anspruchsvoll, sie sollen nichts Eigenes wollen und keine Gefühle zeigen, denn das ist lästig für die anderen. Und Dollys Jähzorn – der hat nicht etwa berechtigte Gründe. Meine Frage nach der psychologischen Motivation fiel völlig in sich zusammen, denn Psychologie gibt es hier praktisch nicht.

Genau wie in Johanna Haarers Nazi-Bestseller Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, der in Deutschland noch bis in die 1970er Jahre hinein neu aufgelegt wurde, treten an Stelle der Psychologie Erziehungsdogmen, zu denen es gehört, Gefühle auf jeden Fall zu disziplinieren. So hat Dolly ihre Wutanfälle von ihrem Vater „geerbt“, der das sehr bedauert, und muss nun lernen, gegen sie anzukämpfen. Denn Mädchen sollen auch nicht wütend sein, sie müssen lernen sich zu beherrschen. Bevor Dolly das kapiert, rastet sie einmal aus und schlägt das „verwöhnte“ Mädchen vom Anfang, weil es zu einem anderen gemein war. Dollys Motive werden von der Erzählstimme gutgeheißen und nicht nur das, auch die Schläge werden im Roman gerechtfertigt, denn: „Sicher wäre es für die boshafte, selbstsüchtige Evelyn besser gewesen, wenn sie als Kind einmal ein paar Klapse bekommen hätte, doch das war versäumt worden. Und nun erschienen ihr die paar Schläge von Dolly als eine gewaltige Beleidigung, die unbedingt gerächt werden mußte.“ So steht es übrigens auch im englischen Original. Das ist nichts anderes als Schwarze Pädagogik. Nicht erst im 21. Jahrhundert sind diese Geschichten frauen- und menschenverachtend, sie waren es schon damals.

Habe ich das damals tatsächlich nicht bemerkt? Schien es mir so normal? Welche Funktion hatten diese Bücher für mich als Teenager? Bestimmt waren sie auch eine Möglichkeit abzutauchen, der Gegenwart zu entfliehen. Denn solange ich in Gedanken auf Burg Möwenfels war, ging es jedenfalls nicht um sauren Regen, ums Waldsterben, um den Holocaust oder die Angst vor der Atombombe, wie in den Jugendbüchern, die mir wohlmeinende Erwachsene schenkten. Hier ging es um Freundschaft, um die Widrigkeiten des Alltags und ums Erwachsenwerden. Gut und Böse waren klar verteilt und das Happy End (Ferien!) garantiert. Das war wohltuend. Und von dem Rest erschien mir wahrscheinlich tatsächlich ziemlich viel normal, denn diese Geschlechterrollen gab es ja alle noch und die Ansichten über Disziplinierung von Gefühlen auch.

Meine Tochter konnte, als sie vor ein paar Jahren in das passende Alter kam, mit Dolly übrigens nichts anfangen. In dem Moment fand ich das schade. Nachdem ich selbst wieder reingelesen habe, finde ich es vor allem eins: beruhigend. Und nicht weiter bedauerlich. Denn weitere Mädchengenerationen sollten wir mit diesen reaktionären Narrativen verschonen.

Nicole Seifert

Dieser Text entstand im Auftrag von und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung von

Who is afraid of Enid Blyton? ist eine Produktion von Burg Hülshoff – Center for Literature und Teil des Projekts Mit den Gespenstern leben (haunting|heritage), gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen im Programm »Regionales Kultur Programm NRW«, die Commerzbank-Stiftung und die Kunststiftung NRW. Präsentiert von kultur.west und taz. die Tageszeitung.

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Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

5 Kommentare zu „Enid Blytons „Dolly“ revisited

  1. Ich erinnere mich an dieses Verschlingen der Dolly-Bücher, und natürlich Hanni und Nanni. Aber noch mehr mochte ich 5 Freunde – diese haben wir als Kinder nachgespielt und hatten großen Spaß. Im Nachhinein fällt mir auf, wie meine Großmutter uns mit dem Dolly-Frauenbild versorgte – auch die Nesthäkchen-Reihe kam von ihr – und wie meine Mutter uns mit ganz anderem Lesestoff in Berührung brachte: Astrid Lindgren und Abenteuerromane, Verne, Dickens und Scott – die Welt der Phantasie stand uns offen! Und vor allem lebten meine Eltern uns eine glückliche Ehe vor, beide berufstätig, beide erfüllt von ihrer Tätigkeit und in beständiger Kommunikation mit ihren heranwachsenden, leicht rebellischen Töchtern.
    Dagmar Maya Hahn

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  2. ohja, enid blyton – ihre bücher sind inzwischen obsolet u obschon ich sie einst (in meiner kindheit war lesestoff äußerst rar, i nahm, was auch immer ich erwischen konnte) verschlungen hab, konnte ich meine eigenen töchter wohl „besser“ versorgen … 😉😊

    liebe grüße: pega

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  3. Sehr nostalgischer Text für mich. Schön!
    Als Bub habe ich alles von Schneider gelesen, denn die Bücher gabs umsonst. Meine Tante war Tina Caspari – mit ihrer Reihe „Bille und Zottel“. Als Blyton gestorben war, schrieb sie unter deren Namen ihre Reihen (ich weiß nicht mehr welche)weiter, weil sich das besser verkaufte. So wurde uns das jedenfalls erzählt als Kinder und wir durften „ja“ nicht drüber reden. Jetzt sind aber alle schon lange verstorben. Auch Schneider.

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