„Diese Mischung aus Dämonie und Idylle“ 

In Nebenan ergründet Kristine Bilkau das menschliche Zusammenleben. Ein kluger, feiner Roman zum (Wieder)Erkennen und zum Schaudern.

Zwei Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen, die wenige Kilometer voneinander entfernt leben, sich zunächst nicht kennen und nicht allzu viel gemeinsam zu haben scheinen. Astrid ist Ärztin, ihre Kinder sind längst aus dem Haus, ihr Mann bereits in Rente, in absehbarer Zeit wird sie ihre Praxis abgeben, vieles geht zu Ende. Julia ist vierzig und gerade mit ihrem Mann aus Hamburg aufs Land gezogen, ein Neuanfang. Das Paar möchte ein Kind bekommen, mittlerweile mit medizinischer Hilfe. Weil sie auf ihre CO2-Bilanz achten, versuchen sie in dem winzigen Dorf, in dem sie ein Haus gekauft haben, ohne Auto auszukommen. Wer aus dieser Zusammenfassung schließt, in Nebenan werde satirisch zugespitzt, zeit- oder milieutypische Verhaltensweisen würden zum Zweck des Amüsements bloßgelegt, ist auf der falschen Spur. Kristine Bilkau macht genau das Gegenteil. Ihr – unendlich viel schwierigeres – Anliegen ist es, zu ergründen und nachvollziehbar zu machen, was ihre Figuren im Innersten umtreibt, und das gelingt ihr aufs Wunderbarste. Nebenan ist ein Geflecht aus Geschichten und Motiven, das es in sich hat, ein Roman von hoher Dichte, der nach einem stillen Anfang eine zunehmende Wucht entfaltet.

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Porträt der Künstlerin als junge Frau

„Und?“ sagt er, bevor ich zu weit von ihm weggelangen kann, „was macht der Roman?“ Er sagt es, als wäre das Wort meine Privaterfindung. […] Wieviele Seiten hast du jetzt schon?“

„Sowas wie zweihundert.“ Ich bleibe nicht stehen. Bis zu dem Anbau an der Garage sind es nur noch ein paar Schritte.

„Weißt du“, er stößt sich von seinem Auto ab, wartet, bis er meine volle Aufmerksamkeit hat, „ich staune nur immer wieder, dass du glaubst, du hättest etwas zu sagen.“

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Die Großartigkeit von Zora Neale Hurston

Vor sechzig Jahren starb Zora Neale Hurston, eine der wichtigsten Stimmen der afroamerikanischen Literatur.

 

Schiffe in der Ferne haben jedermanns Wunsch an Bord. Für manche treffen sie mit der Flut ein. Für andere fahren sie immer am Horizont dahin, nie außer Sicht, nie ein in den Hafen, bis der Ausschauer resigniert die Augen abwendet, da ihm an der kalten Schulter der Zeit die Träume gestorben sind.

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Mit Dolby-Surround im Viktorianismus

Mein Lesejahr endete mit einem tausendseitigen Lesevergnügen, einem Roman, der noch in anderer Hinsicht superlativisch ist. Middlemarch, George Eliots Hauptwerk, wurde in England vor wenigen Jahren von einer internationalen Jury zum bedeutendsten britischen Roman aller Zeiten gewählt – vor Jane Austen, den Brontës, Charles Dickens oder Virginia Woolf. Julian Barnes und Martin Amis halten ihn für den größten Roman englischer Sprache und betonen, wie beispielsweise auch Siri Hustvedt, immer wieder, welch große Bedeutung dieser Roman für sie hat.

George Eliot, die eigentlich Mary Ann Evans hieß, wurde 1819 geboren und sollte die bestbezahlte und meistgelesene Autorin ihrer Zeit werden. Sie wurde von weiten Kreisen verehrt wie eine Heilige, von anderen allerdings als „Stinkbombe der Menschheit“ verdammt. Dazu später mehr. „Mit Dolby-Surround im Viktorianismus“ weiterlesen

Ein stilles, tiefes Wasser

Als ich neun Jahre alt war, lernte ich schwimmen. Meine Mutter brachte es mir im Traum bei, da war sie schon tot.

Der erste Satz dieses feinen Debütromans von Mona Høvring nimmt einen bei der Hand, als führe er auf vertrautes Terrain, aber schon mit dem zweiten steht man am Abgrund. Laura war sechs, als ihre Mutter ins Wasser ging, seitdem leben in dem Häuschen an der norwegischen Küste nur noch ihr älterer Bruder, der in sich gekehrte Vater und sie. In dem Traum ist Laura, als glitte sie in ein anderes Dasein hinein. „Ein stilles, tiefes Wasser“ weiterlesen

Linderung durch Eichhörnchen

Wenn ein Buch mit einem unerwarteten Heiratsantrag beginnt, der überrascht angenommen wird, dann ist die entscheidende Frage, ob es am Ende auf das klassischste aller Happy Endings hinauslaufen wird oder nicht. Veblen, die Protagonistin von Elizabeth McKenzies Roman Im Kern eine Liebesgeschichte, ist Anfang dreißig und arbeitet in Palo Alto, Kalifornien, für eine Zeitarbeitsfirma. Ihren Freund Paul kennt sie noch gar nicht so lange, und eigentlich ist sie mit ihrem Leben ganz zufrieden, so wie es ist. „Linderung durch Eichhörnchen“ weiterlesen

Wer hat es verdient?

Eine französische Großfamilie trifft sich bei der Beerdigung von Onkel Simon und Tante Tamara, die immer der Dreh- und Angelpunkt der Familie waren und nun im hohen Alter im Abstand von wenigen Stunden gestorben sind. Da sie gut betucht waren und keine Kinder hatten, rechnen sich sämtliche Hinterbliebenen – eine betagte Schwester, diverse Nichten und Neffen – Chancen aufs Erbe aus. Allerdings ist, wie sich bereits auf dem Weg zur Friedhofskapelle herumspricht, das Testament abhandengekommen, es existiert nur eine Kopie, die juristisch nichts wert ist. Man wird sich verständigen müssen. „Wer hat es verdient?“ weiterlesen

Das innere Erleben ist alles

Drei Romane, die viel gemeinsam haben, einer druckfrisch, einer acht Jahre alt, der andere bald neunzig. In allen geht es um sechs miteinander befreundete Figuren, drei Männer und drei Frauen, und in allen tritt die äußere Handlung hinter das innere Erleben dieser sechs zurück. Die Ähnlichkeit ist kein Zufall. Christina Hesselholdt und Véronique Olmi erweisen sich mit diesen Büchern als Epigoninnen von Virginia Woolf.

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