Die Großartigkeit von Zora Neale Hurston

Vor sechzig Jahren starb Zora Neale Hurston, eine der wichtigsten Stimmen der afroamerikanischen Literatur.

 

Schiffe in der Ferne haben jedermanns Wunsch an Bord. Für manche treffen sie mit der Flut ein. Für andere fahren sie immer am Horizont dahin, nie außer Sicht, nie ein in den Hafen, bis der Ausschauer resigniert die Augen abwendet, da ihm an der kalten Schulter der Zeit die Träume gestorben sind.

Janie, die Protagonistin von Zora Neale Hurstons 1937 erschienenem Klassiker Vor ihren Augen sahen sie Gott, hält lange nur Ausschau, kann nur vom erfüllten Leben träumen. Zu einer ersten Ehe mit einem sehr viel älteren Mann wird sie von ihrer Großmutter gezwungen, sodass sie bald mit einem anderen davonläuft. Doch auch diese zweite Ehe erweist sich nicht als glücklich. Schließlich macht sie sich auf den Weg zum Horizont, ins Unbekannte. Reich an Erfahrungen, guten wie schlechten, kehrt sie Jahre später nach Hause zurück, mittlerweile in ihren Vierzigern, um ihrer Freundin zu erzählen, was sie erlebt hat. Damit beginnt der Roman, der von einer kraftvollen Poesie ist und Bilder von großer Klarheit und Eindringlichkeit wie diese enthält:

Die Jahre tilgten allen Widerstand aus Janies Gesicht. Eine Weile dachte sie, auch aus der Seele. Was Jody auch tat, sie sagte nichts. Sie hatte gelernt, fünfe grade sein zu lassen. Sie war ein ausgefahrenes Stück Straße. Reichlich Leben unter der Oberfläche, aber die Räder walzten es ständig platt. Manchmal streckte sie sich in die Zukunft und träumte von einem anderen Leben. Meistens jedoch lebte sie zwischen Hut und Hacken, und ihre inneren Anwandlungen kamen und gingen wie Schattenflecken im Wald – mit der Sonne.

Große Teile des Romans spielen in Eatonville, einer rein schwarzen Kleinstadt in Florida, in der Hurston tatsächlich aufwuchs. Die besonderen Umstände dort hatten starke Auswirkungen auf Hurstons Haltung und auf ihr Werk. Da die Erfahrung des Rassismus für sie keine prägende war, da sie dort nicht zu einer Minderheit gehörte, ihre Hautfarbe nicht als etwas markant anderes erlebte, das Anlass für Diskriminierung gewesen wäre, ist es so auch in ihren Texten nicht. Dass Zora Neale Hurston den brutalen Rassismus in den Südstaaten als erfolgreiche schwarze Autorin nicht zu ihrem Thema machte, handelte ihr von sozialkritischen Autoren ihrer Zeit, wie etwa Richard Wright, den Vorwurf ein, ein folkloristisches Idyll zu zeichnen.

Gerade dass sie sich zu einer eigenständigen weiblichen schwarzen Perspektive bekannte und den Mut hatte, im schwarzen Dialekt zu schreiben, mit dem sie aufgewachsen war, machte sie für Schriftstellerinnen wie Alice Walker und Toni Morrison, die sie Anfang der Siebzigerjahre wiederentdeckten, jedoch zu „einer der größten Schriftstellerstimmen unserer Zeit“. Sie erkannten das Besondere ihres Blicks auf die eigene Herkunft, die metaphysische Zuversicht, die sie für ihr Leben in Anspruch nahm.

Zadie Smith, die den Roman als junge Frau von ihrer Mutter geschenkt bekam und ihn eigentlich schrecklich finden wollte, dann aber sehr liebte, möchte Hurston vor der Vereinnahmung und vor Idealisierung schützen, wenn sie schreibt:

Ihre Großartigkeit verdankt Hurston nicht der weiblichen schwarzen Erzähltradition. Die verdankt sie sich selbst. Diese Zora Neale Hurston, die menschliche Verletzlichkeit ebenso überzeugend schildert wie menschliche Stärke, die poetisch ist, ohne sentimental zu sein, romantisch und doch rigoros und als eine der wenigen in der Lage, wahrhaft wortgewandt über Sex zu schreiben, ist unter schwarzen Schriftstellerinnen genauso eine Ausnahmeerscheinung wie Tolstoi unter weißen Schriftstellern. 

Zora Neale Hurston las als kleines Mädchen, was ihr in die Finger kam, und saß gern auf der Veranda des Kaufladens in Eatonville, um den Geschichten zu lauschen, die sich die Erwachsenen dieser traditionsbewussten afroamerikanischen Gemeinschaft erzählten. Als ihre Mutter, die ihre Kinder zu Selbstvertrauen und Willensstärke erzogen hatte, 1904 starb – Zora war 9 –, zerbrach die Familie. Sie kam ins Internat, lebte ab ihrem fünfzehnten Lebensjahr bei Freunden und nahm Gelegenheitsjobs an. Später holte sie ihren Highschool-Abschluss nach, studierte in Washington, D.C. und begann währenddessen, erste Geschichten und Theaterstücke zu schreiben. 1925 ging sie nach New York, wo man sie als aufstrebende junge schwarze Schriftstellerin wahrnahm und sie bald zu einer zentralen Figur der Harlem Renaissance wurde. Diese erste Aufbruchsbewegung schwarzer Künstler*innen in den 1920er Jahren war durch die massenhafte Abwanderung schwarzer US-Amerikaner aus den Südstaaten Richtung Norden ausgelöst worden und brachte eine Blüte afrikanischer Kunst mit sich. Nach Abschluss ihres Ethnologie-Studiums zog Hurston ins heimische Florida, um die Geschichten, Bräuche, Predigten und Lieder der Schwarzen in den Südstaaten zu sammeln. Ihr Beruf wurde schließlich jedoch das Schreiben, und sie wurde zur vielleicht bedeutendsten Figur der afroamerikanischen Literatur der Dreißigerjahre.

Janie wird für ihren Mut, ins Unbekannte aufzubrechen, zum Horizont zu reisen, belohnt. Dieser Teil von ihr, der sich nach etwas sehnt, hat, wie Zadie Smith schreibt, stolze Ahninnen in Elizabeth Bennet aus Stolz und Vorurteil, in Dorothea Brooke aus Middlemarchund in Jane Eyre. Sie alle sind Figuren, die lange brauchen, um den Mann zu finden, den sie wirklich lieben, und die dabei auch ihr eigenes Ich entdecken.

Neben Erzählungen und Barracoon: Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven schrieb Hurston auch eine Autobiografie mit dem Titel Ich mag mich, wenn ich lache. In den Fünfzigerjahren war sie als Autorin nicht mehr gefragt. Sie begann, als Putzfrau zu arbeiten und starb 1960 neunundsechzigjährig einsam und vergessen in einem Fürsorgeheim in Florida. Ein trauriges Ende für eine Frau, die der Lebenslust so einzigartig und ansteckend Ausdruck verleihen konnte. Oder wie Zadie Smith es formulierte: „Kein Mensch – unabhängig von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht – sollte sich die Freude an Zora versagen.“

Nicole Seifert

Zora Neale Hurston
Vor ihren Augen sahen sie Gott
Roman
Ins Deutsche übersetzt und mit einem Nachwort von Hans-Ulrich Möhring
Edition fünf
272 Seiten
19,90 Euro

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

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