Mit Dolby-Surround im Viktorianismus

Mein Lesejahr endete mit einem tausendseitigen Lesevergnügen, einem Roman, der noch in anderer Hinsicht superlativisch ist. Middlemarch, George Eliots Hauptwerk, wurde in England vor wenigen Jahren von einer internationalen Jury zum bedeutendsten britischen Roman aller Zeiten gewählt – vor Jane Austen, den Brontës, Charles Dickens oder Virginia Woolf. Julian Barnes und Martin Amis halten ihn für den größten Roman englischer Sprache und betonen, wie beispielsweise auch Siri Hustvedt, immer wieder, welch große Bedeutung dieser Roman für sie hat.

George Eliot, die eigentlich Mary Ann Evans hieß, wurde 1819 geboren und sollte die bestbezahlte und meistgelesene Autorin ihrer Zeit werden. Sie wurde von weiten Kreisen verehrt wie eine Heilige, von anderen allerdings als „Stinkbombe der Menschheit“ verdammt. Dazu später mehr. Ein männliches Pseudonym nahm sie an, um größere Chancen auf eine Veröffentlichung zu haben – und damit ernstgenommen wurde, was sie schrieb. Bereits ihr erster Roman, Adam Bede, machte sie auf einen Schlag bekannt. Kurz vor Erscheinen ihres zweiten Romans, Die Mühle am Floss, wurde öffentlich, dass sich hinter dem Pseudonym eine Frau verbarg, aber da hatte sie schon gezeigt, was sie kann. Middlemarch, ihren wichtigsten Roman, schrieb sie fünfzigjährig.

Und darum geht es

Anhand weniger Familien und einiger Einzelpersonen wird ein gesellschaftliches Panorama aufgespannt, in dessen Zentrum drei Liebespaare in dem fiktiven Ort Middlemarch stehen, der wohl Coventry nachempfunden wurde. Die Protagonistin des Buches ist Dorothea Brooke, eine junge, kultivierte Frau des niederen Landadels, die starke Überzeugungen hat und den ausgeprägten Drang, etwas zu bewirken in der Welt. Die Handlung setzt ein, wo die Romane der fünfzig Jahre zuvor verstorbenen Jane Austen enden: mit der Eheschließung. Dass Dorothea ausgerechnet den sehr viel älteren Gelehrten Casaubon heiratet, halten alle um sie herum für eine schlechte Idee. Casaubon, der an einem großen Werk über den Ursprung aller Mythologien sitzt, beeindruckt sie intellektuell. Sie idealisiert ihn und sein Tun und will ihm dienen. Aber Casaubon ist über das Anhäufen von Notizen und das Verfassen gelehrter Abrisse bisher nicht hinaus gekommen und wird es zu einer eigenen Theorie schon deshalb nicht bringen, weil er es gar nicht wagt. Was er vielleicht selber ahnt. Um so wichtiger ist ihm die Bewunderung seiner Frau – und dass sie ihm nicht auf die Schliche kommt. Also geht er auf Distanz – Gift für eine tief empfindende, idealistische Frau wie Dorothea und für diese junge Ehe. Aber das ist nur der Anfang.

Ein zweiter Protagonist ist der junge Arzt Tertius Lydgate, der in Paris Medizin studiert hat und nun nach Middlemarch kommt, um dort zu praktizieren. Der gutaussehende, charmante Mann hat nicht so bald vor zu heiraten, er hat beruflich große Pläne, will seine revolutionären medizinischen Ideen in die Tat umsetzen und muss dafür viel Überzeugungsarbeit leisten und noch mehr Geld auftreiben. Nachdem er eine Weile bei der Familie Vincy ein- und ausgegangen ist, gewinnt sein Dauerflirt mit der heiratsfähigen Rosamond jedoch eine gewisse Eigendynamik…

Bei einem dritten Liebespaar bleibt bis kurz vor Ende der Romanhandlung unklar, ob aus ihnen etwas werden kann. Rosamonds Bruder Fred Vincy ist ein Tunichtgut, der jedoch immerhin sehr genau weiß, wen er liebt, nämlich Mary Garth, deren Familie wohlhabender Bauern das Personal für den dritten Handlungsstrang stellt. Fred möchte Mary für sich gewinnen, aber sie hat Zweifel an seiner Eignung, an seinem Charakter, und er weiß, dass sie damit recht hat.

Der Eliot-Effekt

Es sind durchweg lebendige und vollkommen stimmige Hauptfiguren, zu denen eine Fülle gut ausgearbeiteter Nebenfiguren kommt. Eliots Kunst ist es, die einzelnen Perspektiven dieser Figuren so aufeinander zu beziehen, dass sie sich immer wieder neu ergänzen und verschiedene Motive zum Klingen bringen. So ergibt sich eine umfassende Gesamtschau der Gefühle, Beziehungen, Interessen und Gemengelagen in Middlemarch. Zadie Smith nennt es den „berühmten Eliot-Effekt, das erzählerische Äquivalent des Dolby Surround“. Man ist selbst unterwegs auf den Landstraßen zwischen den Wohnsitzen, und man fühlt sich überall mehr oder weniger zu Hause.

Middlemarch ist eins der Meisterwerke realistischer Erzählkunst und natürlich längst auch historisch interessant. 1871 erschienen, spielt die Handlung des Romans um 1830, zu einer Zeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, technischer Neuerungen und sozialer Umbrüche. Der Bau der Eisenbahn und neue Entwicklungen in der Landwirtschaft warfen politische und philosophische Fragen auf, die Eliots Figuren diskutieren – was genauso lebensnah ist und Hand und Fuß hat, wie alles, womit sie sich beruflich beschäftigen, denn die Autorin hat akribisch recherchiert, ob es ums Kreditwesen geht, um Mythologie oder um Medizin. Trocken und langweilig wird es dabei nie, weil es Eliot auch bei diesen Schilderungen letztlich immer um das Menschliche geht.

Mary Ann Evans genoss eine für ihre Zeit und ihr Geschlecht recht gute Ausbildung in verschiedenen Mädchenpensionaten – bis sie siebzehn war, da holte der Vater sie nach dem frühen Tod der Mutter nach Hause, damit sie ihm den Haushalt führte. Während ihre Geschwister sich verheirateten, pflegte sie den Vater, bis er starb. Da war sie dreißig, damals galt das als alte Frau. Ihr Schicksal schien ausgemacht, wie Elke Schmitter schreibt:

die Dienstboten überwachen, mit anderen Jungfern oder auch Witwen Scones zum Tee verzehren und Wohltätigkeit üben. In Würde und Anstand vertrocknen. Klavierspielen, ein bisschen Singen vielleicht, auch Lektüre war durchaus erwünscht. Erwünscht war allerdings nicht, sich mit dem zu beschäftigen, wovon bei Karl Marx und Charles Dickens die Rede war: die Lage der arbeitenden Klasse Englands, die Bettelei ihrer Kinder, die Schuldgefängnisse und die barbarische Gerichtsbarkeit, der Suff – das alles war nichts für Ladys. […] Wenn von Politik die Rede war, dann hatten sie zu schweigen. Kaum jemals traute man ihnen weniger zu, schnürte sie fester ein als zu den langen Lebzeiten Queen Victorias – geboren im selben Jahr wie Eliot und gekrönt in jenem Alter, da Eliot als Achtzehnjährige bei ihrem Vater festsaß.

Erste Veröffentlichungen und ein Skandal

Aber sie hatte die Jahre im Haushalt zum intensiven Sprachenstudium genutzt und zu umfassender Lektüre. Und sie hatte Gelegenheit, im Bekanntenkreis philsophische und religiöse Ansichten zu diskutieren und bekam über diese Bekanntschaften die Möglichkeit, regelmäßig Beiträge und Rezensionen im Magazin Coventry Herald und Observer zu veröffentlichen – unentgeltlich und ohne Namensnennung. So viel Tüchtigkeit und Anspruchslosigkeit wurde von ihrem Verleger ausgenutzt: In den 1850er Jahren gestaltete sie seine Westminster Review  praktisch im Alleingang und machte sie, wiederum ohne Bezahlung, zu einer der wichtigsten literarisch-philosophischen Zeitschriften Englands.

Durch diese Arbeit lernte sie George Henry Lewes kennen, der Bestseller über Goethe und Darwin geschrieben und in London eine Frau und sieben Kinder hatte. Wobei drei genaugenommen nicht von ihm stammten, sondern von einem sogenannten Hausfreund. Lewes wusste das, hatte die Kinder anerkannt und kam für sie auf, was den Nebeneffekt hatte, dass eine Scheidung aus Gründen des Ehebruchs nun nicht mehr möglich war. Also zog er einfach mit Mary Ann Evans zusammen, ohne Trauschein, und die beiden lebten wie ein Ehepaar, sie nannte sich sogar Mrs. Lewes – im viktorianischen London ein Skandal ohne gleichen. Wie eine Ehefrau mit dem Geliebten leben – damit forderte sie die geltenden Konventionen massiv heraus. So etwas tat man nicht ungestraft.

Man zerriss sich das Maul über „Mrs. Lewes“ und weigerte sich, sie zu empfangen; der eigene Bruder wandte sich von ihr ab. Sie war persona non grata, Lewes nicht. Die Beziehung der beiden währte fünfundzwanzig Jahre, bis zu Lewes’ Tod 1878, und war äußerst glücklich und intellektuell produktiv. Ihr Pseudonym ist im ersten Teil eine Ehrerweisung an George Sand, im zweiten eine lautmalerische Dankesbezeigung an ihren Mann, der auch ihr Lektor und Agent war, sie zum Schreiben ermuntert hatte und die Verträge für sie aushandelte, die sie wohlhabend machten. Anderthalb Jahre nach Lewes’ Tod heiratete George Eliot den zwanzig Jahre jüngeren J.W. Cross. Auch dies eine sehr kühne Tat. Sieben Monate nach der Hochzeit starb George Eliot, einundsechzigjährig, an Herzversagen.

Ihr größter Roman liegt nun in einer wunderbaren Neuübersetzung von Melanie Walz vor, mit ausführlichem Anmerkungsteil und einem Nachwort der Übersetzerin – ein vom Rowohlt Verlag bibliophil gestaltetes, rundum gelungenes Buch.

Middlemarch ist die schillernde Inszenierung menschlichen Strebens auf Erden“, um noch einmal Zadie Smith zu zitieren. Und es ist ein Buch, das eine erneute Lektüre immer wert ist, das jedes Mal besser zu werden scheint, je älter man wird. Schon Virginia Woolf sah darin einen der wenigen englischen Romane, die für erwachsene Menschen geschrieben seien.

Nicole Seifert

George Eliot
Middlemarch, Eine Studie über das Leben in der Provinz
Roman
Aus dem Englischen von Melanie Walz
Rowohlt Verlag
1.264 Seiten
45 Euro

 

Quellen

Elke Schmitter, „George Eliot – Ironie und Rührung“, in: Leidenschaften, 99 Autorinnen der Weltliteratur, hg. von V. Auffermann, G. Kübler, U. März und E. Schmitter, München: C. Bertelsmann 2009

Zadie Smith, „Middlemarch und alle anderen“, in: Zadie Smith, Sinneswechsel, Aus dem Englischen von Tanja Handels, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015

Virginia Woolf, „George Eliot“, in: Virginia Woolf, Frauen und Literatur, Essays, Deutsch von Hannelore Faden und Helmut Viebrock, Frankfurt am Main: S. Fischer 1989

Bei Interesse an den verschiedenen Übersetzungen empfehle ich den Artikel
„Die viktorianische Alleskönnerin“ von Julia Rosche auf tralalit.de

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

10 Kommentare zu „Mit Dolby-Surround im Viktorianismus

  1. Der Preis des Buchs hat mich bisher davon abgehalten, es im Buchladen mitzunehmen – deine Besprechung hat mich nun aber wirklich überzeugt, die über tausend Seiten doch anzugehen. Tolle Rezension und Einordnung in den gesellschaftlichen und zeitlichen Kontext! Danke dafür.

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  2. Ich finde, „Middlemarch“ gewinnt besonders, wenn man es mit Austens „Emma“ vergleicht. In gewisser Weise sind beide Romane ja eine Art Porträt eines Ortes mit seinen Bewohnern – nur dass „Emma“ eben völlig der Perspektive der gentry und dem Heiratsthema verhaftet bleibt, während „Middlemarch“ sich viel mehr für das gesellschaftliche Ganze interessiert. Ein Roman für Erwachsene, hat Virginia Woolf ja so schön gesagt.

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