Wer hat es verdient?

Eine französische Großfamilie trifft sich bei der Beerdigung von Onkel Simon und Tante Tamara, die immer der Dreh- und Angelpunkt der Familie waren und nun im hohen Alter im Abstand von wenigen Stunden gestorben sind. Da sie gut betucht waren und keine Kinder hatten, rechnen sich sämtliche Hinterbliebenen – eine betagte Schwester, diverse Nichten und Neffen – Chancen aufs Erbe aus. Allerdings ist, wie sich bereits auf dem Weg zur Friedhofskapelle herumspricht, das Testament abhandengekommen, es existiert nur eine Kopie, die juristisch nichts wert ist. Man wird sich verständigen müssen.

Der Erbstreit ist aber gar nicht die Hauptsache in diesem kurzen Roman, er bildet für Sylvie Schenk nur den Anlass, um zu erzählen, was viel interessanter ist: die Gefühle und Gedanken der einzelnen Familienmitglieder und ihre Beziehungen zueinander. Dabei spielt eine große Rolle, dass die einen mehr Geld haben als die anderen, dass es Gewinner und Verlierer gibt oder sich die Familienmitglieder jedenfalls als das eine oder andere empfinden. Die Folge: Ungerechtigkeitsgefühle und Neid.

Die Erzählerin Céline, selbst Anfang sechzig, hat ihren Onkel Simon früher regelrecht vergöttert. Er und seine Frau erschienen ihr immer sehr viel glamouröser und lässiger als die eigenen Eltern, die im Vergleich etwas traurig und armselig wirkten. Sie hatte eine besondere Beziehung zu diesen beiden, während sie zu ihren bereits verstorbenen Eltern schon früh auf räumliche Distanz ging und ihrem Verlobten nach Deutschland folgte. Dort lebt sie, wenn auch inzwischen geschieden, noch immer. Ihre zwei Schwestern und ihren Bruder anlässlich der Beerdigung wiederzusehen freut sie:

„In Céline flammt eine schüchterne Freude auf: Man ist wieder beieinander, alle nicht mehr jung, aber lebendig. Sobald sie zusammenkommen, sind sie Geschwister, aufgeregt, schelmisch. Verbündet, vertraute Spielkameraden, alte Komplizen.“

Aber der Zusammenhalt der Geschwister ist nicht unangreifbar, die drei Frauen sind sehr unterschiedlich. Pauline, die sich täglich um den Onkel und die Tante gekümmert hat, stellt ihrer Schwester Céline jedes Mal, wenn sie sich sehen, die Frage, ob sie denn immer noch ohne Mann lebe? Sie wirke so unterkühlt. Ihr Bruder Philippe hat den Eindruck, seine Schwestern konkurrierten um die größte Unglücksmedaille. Ihm ist klar, dass „das Leben sich meistens in anödenden Grautönen abspielt und nur in Schicksalsschlägen kolossal werden kann“, deshalb setzt er auf den Rausch der Geselligkeit, des Liebemachens, des Geldes und des Gesangs. Jeder sollte, sagt er, etwas in seinem Leben finden, „das ihm erlaubt, das Böse wegzupusten.“

Diese Haltung ist nicht jedem gegeben und vielleicht auch gar nicht für alle in dieser Familie das Richtige. Sicher ist nur: Jede der Figuren hat eine Meinung und ein Urteil über die anderen. Und jede hat ihren eigenen Groll. Und die Erinnerungen, die dieses Familientreffen in Céline freisetzt, zeigen, dass es so im Grunde schon immer war.

„Hm, machte Céline und ersparte ihrer Schwester folgende Belehrung: Der Besuch von Verwandten und Erblassern gehört zu den Momenten im Leben, in denen kein Gefühl rein ist, aber nicht alle Gefühle verwerflich sind.“

Zwar glaubt Céline beim gemeinsamen Essen nach der Beerdigung zu spüren, dass sich alle wünschen, sich näherzukommen, stattdessen driften sie auseinander. Es stehen Fragen im Raum: Wer hat wem wie viel bedeutet, wer hat was richtig oder falsch gemacht, wem steht also was vom Erbe zu, wer hat es verdient? Anlässlich des Testaments werden Vorwürfe laut und verletzende Bemerkungen – eine ganz gewöhnliche Familie, eben. Hatten Simon und Tamara die Großfamilie zu Lebzeiten zusammengehalten, bringt ihr Tod sie auseinander. So endet dieses stille, sehr lesenswerte, klug beobachtende Buch in Scherben. Es ist jedoch nicht alles verloren, einen Lichtblick gibt es. Aber alles verrate ich jetzt nicht.

Nicole Seifert

Sylvie Schenk
Eine gewöhnliche Familie
Roman
Hanser Verlag
160 Seiten
18 Euro

 

 

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

Ein Kommentar zu „Wer hat es verdient?

  1. Das klingt sehr interessant. Ein Buch für jeden, da wir ja alle ein Teil von Familie sind. Und am Sterbebett eines Familienmitglieds kommt man sich auf besondere Weise näher oder auch nicht. Spannend!

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