Große Pläne, kleine Feuer

Das Haus der Richardsons brennt gleich auf der ersten Seite. Mrs. Richardson, die an diesem Vormittag ganz entgegen ihrer Gewohnheit (und ihre Gewohnheiten sind eigentlich in Stein gemeißelt) lange geschlafen hat, hat sie selbst entdeckt: kleine Feuer überall, in jedem Schlafzimmer der sechsköpfigen Familie. Im Bademantel wartet sie an der Straße auf die Feuerwehr, auf ihren Anwaltsgatten, ihre zwei Söhne und zwei Töchter im Alter zwischen vierzehn und siebzehn Jahren. Bald sind alle da und sehen gemeinsam das Haus abbrennen, alle bis auf eine. Es fehlt die jüngste Tochter Izzie, Hitz- und Querkopf und deshalb das schwarze Schaf der Familie. Es sind sich alle einig, dass nur sie die Feuer gelegt haben kann. 

Wie es so weit kommen konnte, das erzählt der Roman. Das nächste Kapitel setzt ein knappes Jahr zuvor ein, als neue Mieter in das zweite Domizil der Richardsons in Shaker Heights ziehen, ein tatsächlich existierendes, am Reißbrett entworfenes Besserverdienenden-Viertel in Ohio. Mia Warren und ihre fünfzehnjährige Tochter Pearl sind in jeder Hinsicht der Gegenentwurf zu den Richardsons. Hier die große Bilderbuchfamilie mit bürgerlichen Berufen und doppeltem Einkommen, dort die Alleinerziehende, die auch noch Künstlerin ist, mit ihrer Tochter seit Jahren durch die Lande fährt und sich nur niederlässt, um weiterzuziehen, sobald die Umgebung sie nicht mehr zu neuen Projekten inspiriert. Doch das soll sich jetzt ändern, ausnahmsweise hat auch Mia Warren einen Plan. Diesmal wollen sie bleiben, Pearl soll Gelegenheit haben, Wurzeln zu schlagen und Freundschaften zu schließen.

Freunde findet Pearl – von Mia so benannt nach der Tochter der von der Gesellschaft verstoßenen Protagonistin von Nathaniel Hawthornes „Der scharlachrote Buchstabe“ – in den Kindern der Richardsons. Sie freundet sich mit den Töchtern an und verliebt sich in einen der Söhne, während sich der andere in sie verliebt. Sie beginnt sich bei dieser so anderen Familie zu Hause zu fühlen. Izzie, das jüngste Kind der Richardsons, fühlt sich hingegen zu Mia und ihrem in jeder Hinsicht freieren Künstlerleben hingezogen. Die Wahlverwandtschaften, die so eingegangen werden, bringen einiges durcheinander, zumal Mrs. Richardson, die in dem Glauben lebt, wenn sie sich an Regeln und Pläne halte, könne im Leben nichts schiefgehen, von Mias Leben so fasziniert wie irritiert ist. Als sie ihre finanziell viel schlechter dastehende Mieterin mehr oder weniger nötigt, in ihrem Haus zu putzen, erfährt Mia dort Dinge, die selbst Mrs. Richardson von ihren Kindern nicht weiß. Zeitgleich beginnt diese (sie ist nicht umsonst Lokaljournalistin), Mia im großen Stil hinterher zu spionieren – und das lohnt sich, wie sich herausstellt.

Lässt sich der Roman anfangs durchaus Zeit, sein Szenario zu entfalten, wird die Story mit fortschreitender Lektüre komplexer und spannender. In drei Handlungssträngen geht es um Mutterschaft in all ihren Facetten, um ungewollte Kinderlosigkeit und ungewollte Schwangerschaft, um das, was Mütter und Töchter verbindet und trennt, und um die Frage, was eine Frau eigentlich zur Mutter macht. Die Figuren sind lebendig, die Geschichte gut konstruiert. Dass sie von einem allwissenden Erzähler erzählt wird, hat mich immer mal wieder gestört, das Lesevergnügen aber nur unwesentlich getrübt.

Celeste Ng (sprich: Ing), die 1980 in Pittsburgh geboren wurde, ist selbst in Shaker Heights aufgewachsen, und dieser Roman (ihr zweiter nach „Was ich euch nicht erzählte“) wohl ihre Art, Feuer in der perfekten Vorstadthölle zu legen, so wie sie die Doppelmoral und die lebensfernen Vorstellungen der Bewohner*innen vorführt. Richtig entflammt bin ich insgesamt nicht für dieses Buch, trotzdem bleibt es eine auf gutem Niveau sehr unterhaltsame Lektüre – das beinah perfekte Urlaubsbuch, also.

Nicole Seifert

Celeste Ng
Kleine Feuer überall
Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit

dtv
384 Seiten

22 Euro

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

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