Kurz und knapp

Drei kurze Besprechungen dreier sehr unterschiedlicher Romane, alle auf ihre Weise grandios. Ein großartiger amerikanischer Erzähler über obsessive Liebe, Eltern- und Geschwisterliebe und deren Grenzen. Ein episches englisches Sittengemälde, das in den Dreißigerjahren auf einem Landsitz in Sussex beginnt. Und ein so kluger wie komischer deutscher Roman über die Abgründe, vor denen Frauen sich heute oft wiederfinden.

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„Das ist das wahre Leben, das Einzige, woran man merkt, dass man lebendig ist: am rückwärtsgewandten Schmerz. Und das ist Musik. […] Bei Musik geht es immer um das, was jemand verloren hat. Das hört man, wenn die Musik gut ist: Welten, die zerbrochen sind, und Menschen, die sie zurückhaben wollen.“

Und wenn Literatur gut ist – und in diesem Fall ist sie richtig gut -, dann lebt man selbst in den Welten, die sie beschreibt, leidet an ihrem Zerbrechen und will sie zurück haben. Selten hatte ich nach einem Buch so wie hier das Gefühl, nicht nur etwas gelesen, sondern selbst etwas erlebt zu haben, Neues erfahren und verstanden zu haben.

Es ist eine Familiengeschichte über zwei Generationen: ein Elternpaar und dessen drei Kinder, die den größten Teil der Geschichte über selbst erwachsen sind. Sie handelt von obsessiver Liebe, von Mutter- und Geschwisterliebe und davon, wie das Gefühl, für das Glück eines geliebten Menschen verantwortlich zu sein, ein Leben vollkommen bestimmen kann. Und sie handelt von Depressionen und davon, was es für die Angehörigen bedeutet, einen Depressiven nicht heilen zu können, weder mit Liebe noch mit Medikamenten oder sonst wie. Erstaunlicherweise ist die Lektüre trotzdem niemals deprimierend, ganz im Gegenteil, ich fand den Roman geradezu tröstlich, der Guardian bezeichnet ihn sogar als „intense celebration of art, language, and life“. Stellt euch vor, ich bin fort von Adam Haslett, erschienen im Rowohlt Verlag, wurde für den Pulitzer Prize und den National Book Award nominiert und von der Presse als „herzzerreißend“, „atemberaubend“ und „Literatur höchsten Ranges“ gelobt – und das ist tatsächlich alles wahr. Ganz dringende Empfehlung!

Nicole Seifert

Adam Haslett
Stellt euch vor, ich bin fort
Roman

Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt Verlag
464 Seiten
22,95 Euro

 

 

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Katharina, Katha, Kathinka, Katja, Rina – die Protagonistin von Mareike Krügels Roman Sieh mich an hat so viele Rufnamen wie Funktionen, nur an einer klaren Identität fehlt es. Eigentlich hatte sie mal an der Uni bleiben, in die Lehre gehen wollen, aber dazu kam es dann nicht. Jetzt hat sie Kinder und lebt in Schleswig-Holstein, ihr Mann ist meist beruflich in Berlin. Während ein zunächst ganz normaler Freitag seinen Lauf nimmt, drängen sich Katharina Fragen auf, die alles andere als alltäglich sind. Eine Entdeckung, die sie vor kurzem gemacht hat, lässt alles in einem neuen Licht erscheinen, und so steht für sie Entscheidendes auf dem Prüfstand: was eigentlich aus ihr geworden ist und was mal hätte werden sollen, ihr Muttersein, ihre Ehe.

„Im Grunde genommen haben wir in diesem letzten Jahr beide nur im Streit Sätze gefunden, die wahr sind. Wir haben nur im Zorn durchblicken lassen, wer wir wirklich sind.“

Hatte sie bisher eher einen ironischen Umgang mit all diesen Dingen (siehe die Liste „Sprüche für meinen Grabstein“ auf dem Foto), bekommt das Ganze jetzt eine andere Färbung. Mareike Krügel lässt ihre Hauptfigur Dinge denken und aussprechen, die „viele Mütter nicht einmal zu denken wagen“ (so Petra Pluwatsch in der Frankfurter Rundschau), und an Humor, Klugheit und Selbstironie kann Katharina es mit meiner absoluten Lieblingsprotagonistin Dr. Anna Bennet aus Schlaflos von Sarah Moss aufnehmen. Es ist eine Kunst, ein Buch so leicht und lustig daherkommen zu lassen, dahinter jedoch Abgründe aufzutun – die Abgründe nämlich, vor denen Frauen heute regelmäßig stehen, die glaubten, sich zwischen Kindern, Arbeit und Partnerschaft nicht entscheiden zu müssen, genau so wenig wie ihre Männer. Mareike Krügel balanciert gekonnt zwischen Komik und Dramatik, was Seht mich an so unterhaltsam und lesenswert macht. Gerade ist die Taschenbuchausgabe dieses Romans erschienen, dessen Autorin mich ab sofort brennend interessiert.

Nicole Seifert

Mareike Krügel
Sieh mich an
Roman
Piper Taschenbuch
265 Seiten
11 Euro

 

 

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Die Cazalets sind eine großbürgerliche Familie, bestehend aus dem alten Elternpaar Brig und Duchy, ihren drei Söhnen, die ebenfalls alle Familie haben, und der unverheirateten Tochter Rachel. Wir begegnen ihnen im Jahr 1937, kurz bevor sich alle für den Sommer auf dem Familienanwesen in Sussex treffen. Die Bücher der 2014 im hohen Alter verstorbenen Britin Elizabeth Jane Howard wurden erstmals in den Sechzigerjahren veröffentlicht, und ich möchte mal so sagen: Wir sind heute straffere Dramaturgien gewöhnt. Es ist kein handlungsgetriebener Roman, hier geht es um die Figuren, um ihr Liebesleben, ihre Träume, Entscheidungen und Irrtümer, um ihre Entwicklung. Es werden Kinder geboren, Affären in Erwägung gezogen, begonnen und beendet, Ehen und andere zwischenmenschliche Beziehungen unter die Lupe genommen, berufliche Entscheidungen getroffen, es wird gespeist, Squash gespielt und es droht ein Krieg.

Das alles sind zeitlose Themen, ihre zeitabhängige Ausprägung gehört aber zu dem, was dieses Buch so interessant macht. Was es damals bedeutet hat, die einzige, noch dazu ledige Tochter zu sein; was eine nicht gewollte Schwangerschaft für eine verheiratete Frau und Mutter mit Mitte vierzig bedeutete (und dass man gleichzeitig schwanger sein und Gebissträgerin sein konnte, damals mit Mitte vierzig offenbar normal), all das ist aus heutiger Perspektive auch deshalb interessant, weil es eine eigene „Geschichte des privaten Lebens“ ist. Natürlich erinnert das alles an Downton Abbey, und wer die BBC-Serie liebt, sollte es mit den Cazalets auch mal probieren (zwar sind die bürgerlich, aber Bedienstete gibt es trotzdem, und einige von ihnen haben auch ihren eigenen Handlungsstrang). Angenehmerweise wurden der dtv-Ausgabe ein Stammbaum und eine Übersicht vorangestellt, sodass man sich immer mal wieder orientieren kann, wer zu wem gehört. Mir fehlte anfangs noch ein bisschen die action, aber weglegen wollte ich das Buch nicht, weil mich einige Figuren gleich sehr interessiert haben und auch weiter interessieren werden. Im November erscheint der zweite Band, fünf werden es insgesamt.

Nicole Seifert

Elizabeth Jane Howard
Die Jahre der Leichtigkeit
Roman

Aus dem Englischen von Ursula Wulfekamp
dtv
576 Seiten
16,90 Euro

 

 

 

 

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

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