Ellinor ist sechsunddreißig, sie kommt vom Dorf und ist nicht besonders gebildet, aber sie kann kämpfen, und sie weiß, was sie will, nämlich einen zärtlichen, nicht allzu zärtlichen Mann. Über das Internet lernt sie den Literaturkritiker Calisto kennen. Beide sind von ihren bisherigen Erfahrungen gezeichnet, ihre Seelen sind vernarbt. Romantische Erwartungen haben sie eigentlich nicht aneinander, und was sich zwischen ihnen entspinnt, ist denn auch alles andere als eine durchschnittliche Liebesgeschichte. Was sie zusammen erleben ist ungemütlich und karg, mal roh und gewaltsam und dann wieder von überraschender Zartheit. Und Lina Wolff beschreibt es in einer ebensolchen Sprache, ungefiltert, fast naturalistisch.
Calisto erzählt Ellinor kaum etwas über seine Vergangenheit, aber sie erfährt, dass er von einem Autor, den er sehr verehrt, ein Manuskript anvertraut bekommen hat. Es trägt den Titel Die polyglotten Liebhaber und wird in diesem Roman immer wieder auftauchen. Dass Calisto nicht viel erzählt, ist für Ellinor an sich in Ordnung, aber irgendetwas erscheint ihr faul.
Merkt man, dass etwas faul ist, muss man seine Hand auf der Stelle zurückziehen, sonst steckt man sich an und fault ebenfalls, und dann ist alles gelaufen.
Aber ich blieb. Man könnte sagen, mein Verstand war zu schwach, sich meinem Körper zu widersetzen. Aus einem sonderbaren, durchgeknallten Wunsch heraus wollte mein Fleisch mehr über Calisto wissen, und auch wenn mein Fleisch aussieht, als könnte es jeden Moment kapitulieren, ist es stärker als man meint.
Ellinor bleibt wochenlang in Calistos Haus, sieht sich dort um, guckt tagsüber fern und liest seine Bücher, vor allem die von Michel Houellebecq. Calisto, dem sie Abendessen macht, wenn er von der Arbeit kommt, und mit dem sie dann, meist beim Fernsehen, kurzen, schnellen Sex hat, erzählt sie davon nichts. Als es Herbst wird und schon tagsüber dunkel, fühlt sie sich in dem mit großzügigen Fenstern ausgestatteten Haus am Wasser beobachtet. Sie redet sich ein, das sei ganz normal, wenn man im Hellen sitze und es draußen dunkel ist. Aber wie sich zeigt, stimmt ihr Gefühl: Sie wird tatsächlich beobachtet.
Lina Wolffs Roman besteht aus drei Teilen, die lose miteinander verknüpft sind. Verbunden werden sie durch das Manuskript, das Calisto anvertraut wurde. Erzähler des zweiten Teils ist dessen Autor Max. Max spricht zahlreiche Sprachen und sehnt sich nach einer Frau, die genau so viele Sprachen spricht, möglichst dieselben wie er. Das führt ihn zu Lucrezia, der Erzählerin des dritten Teils.
„Sonderbar“ und „durchgeknallt“, die Worte, mit denen Ellinor im obigen Zitat ihren Wunsch beschreibt, trotz allem bei Calisto zu bleiben, sind ziemlich treffende Begriffe für diesen Roman, der einen immer wieder von sich stößt, einen aber noch stärker anzieht. Manchmal schwer erträglich ist es, was diese verwahrlosten Seelen einander antun, anziehend ist der erzählerische Sog, der einen doch immer weiterlesen lässt.
Lina Wolff weiß genau, was sie tut und setzt sich mit ihren Themen auf verschiedenen Ebenen auseinander. Die in Schweden bereits mit mehreren renommierten Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin will dem männlichen Blick auf Frauen etwas entgegensetzen. In ihrem ersten Roman Bret Easton Ellis und die anderen Hunde nimmt sie sich den für seine Gewaltfantasien berühmten Bret Easton Ellis vor, in diesem zweiten Roman Michel Houellebecq, seinerseits bekannt für seine frauenverachtende Haltung. Wie Lina Wolff in einem Interview erklärte, ging es ihr darum, mit ihren Büchern Stellung zu beziehen zu diesen Perspektiven und ihnen ihre eigene, weibliche gegenüberzustellen. Ihr Wunsch ist, dass das nicht nur Frauen lesen:
Wir brauchen verschiedene Lesarten, auch weibliche. Für wen schreibt man? Ich hätte gerne, dass Männern meine Bücher gefallen. Das ist mir wichtig. Ich möchte nicht, dass sie sich beim Lesen ausgeschlossen fühlen, weil sie Männer sind und nicht Teil des feministischen Diskurses, oder so. Wenn ich ein paar Gedanken auslösen kann, dann bin ich glücklich, dann habe ich mein Ziel erreicht.
„Wir erleben ein Erdbeben“, SPIEGEL ONLINE, 10.12.2017
Verschiedene Lesarten, verschiedene Perspektiven, verschiedene Sprachen – in Die polyglotten Liebhaber geht es um die Möglichkeiten zwischenmenschlicher Verständigung und um die Einsamkeit und Hilflosigkeit, die entsteht, wenn sie nicht gelingt. Dem Buch ist als Motto ein Satz von Stephen King vorangestellt:
Herzen können brechen. O ja. Herzen können brechen. Manchmal glaube ich, es wäre besser, wenn wir dran sterben würden, aber das tun wir nicht.
Es ist ein Satz, der das Pathos nicht scheut und der auf den Kern dieses vordergründig ganz und gar unpathetischen Romans verweist. Genau wie das etwas überstrapazierte Kafka-Zitat, demzufolge ein Buch die Axt sein muss für das gefrorene Meer in uns. Zwar zitiert Lina Wolff diesen Satz nie direkt, aber sie spielt mehr als einmal unmissverständlich auf ihn an. Calistos Stockholmer Grundstück liegt am Wasser der Schären. Als das Meer im Winter über lange Zeit gefroren ist, sagt Calisto zu Ellinor:
„Wusstest du, dass man den Charakter eines Menschen an den Gewässern erkennt, die ihn umgeben?“
„Wie soll das denn gehen?“, fragte ich.
„Wie das Wasser, so die Menschen. Es stimmt immer.“
Es ist das gefrorene Meer in Calisto und Ellinor, von dem er hier spricht, und den Hauptfiguren des zweiten und dritten Teils geht es nicht besser.
Lina Wolffs Buch hat die Wirkung, die Kafka forderte. Es trifft, es bricht auf, es tut weh. Es ist unerträglich und herzzerreißend. Das vergisst man nicht so schnell.
Nicole Seifert
Lina Wolff
Die polyglotten Liebhaber
Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat
Roman
Hoffmann und Campe
288 Seiten
22 Euro
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