In Bittere Orangen, dem neuen Roman von Claire Fuller, deren Eine englische Ehe mich im letzten Jahr begeistert hat, ist nichts, wie es scheint. Die Ich-Erzählerin Frances liegt in einer zunächst nicht näher bezeichneten Einrichtung auf dem Sterbebett, neben ihr sitzt ein Pastor, der sie dazu bringen will zu beichten. Allein um ihren Seelenfrieden scheint es ihm dabei nicht zu gehen, in seinen Fragen schwingen auch kriminologische Neugier und Sensationslust mit.
Der Pastor fragt mich, was ich bereue und ob ich ein ruhiges Gewissen habe, und dann flüstert er: „Erzählen Sie, was wirklich geschehen ist.“
Es muss etwas Schlimmes passiert sein in der Vergangenheit. Aber von Anfang an ist klar, dass Frances nicht einfach erzählen wird, was sie weiß. Sie spielt ein Spiel mit dem Pastor, so wie Claire Fuller mit uns.
Schauplatz von Bittere Orangen ist das heruntergekommene englische Herrenhaus Lyntons. Die Ich-Erzählerin Frances kommt im Jahr 1969 auf das alte Anwesen, um im Auftrag eines Amerikaners einen Bericht über seine Gartenarchitektur zu schreiben. Sie ist 39 Jahre alt, kurz zuvor ist ihre Mutter gestorben, mit der sie bis zu ihrem Tod zusammengelebt hat. Das seltsame Haus irritiert Frances. Trompe-l’Oeil-Malerei spiegelt Räume vor, die es nicht gibt, andere Räume sind verrammelt, und die Pfauen auf der Tapete in einem der Salons haben allesamt keine Augen mehr.
Lyntons. Allein wenn ich an das Wort denke, stellen sich mir die Härchen auf den Armen auf, als wäre ich eine Katze, die einen Geist gesehen hat.
Frances bewohnt – wie könnte es anders sein – das Dachzimmer des Hauses; wie die Protagonistinnen von Die gelbe Tapete von Charlotte Perkins Gilman und The Woman Upstairs von Claire Messud ist sie eine Vertreterin der madwoman in the attic, der Verrückten auf dem Dachboden. Claire Fuller spielt mit dieser Figur, die in der englischen Literatur eine lange Tradition hat, und stellt ihr auch das dazugehörige Pendant an die Seite: Cara, eine Frau, die in jeder Hinsicht das Gegenteil der eher tapsigen, unförmigen Frances zu sein scheint, schön und zart, leidenschaftlich und temperamentvoll. Frances erblickt Cara von ihrem Dachfenster aus und hört sie mit einem Mann streiten. Wie sich herausstellt, bewohnt das Paar das Erdgeschoss; es ist ebenfalls in Lyntons, um einen Bericht verfassen, nämlich über das Haus und sein Mobiliar.
Die genaue Erinnerung an die Gefühle, die ich damals bei Caras Anblick empfand, fällt mir schwer angesichts all dessen, was danach geschah. […], aber ich glaube auch sagen zu können, dass ich erregt war von der Aussicht, ich könnte eine alternative Version von mir selbst erfinden, erregt von den Möglichkeiten des Sommers.
Frances ist im sozialen Miteinander ungeübt. Wenn sie Frauen mit Einkaufskörben am Arm beieinanderstehen sieht, die zu Hause vermutlich Ehemänner und Kinder haben, scheint ihr deren Leben so anders, dass sie sich nicht mal vorstellen kann, wie es zustande gekommen ist. Sie bleibt am liebsten für sich. Dieses Paar jedoch fasziniert sie mit seinem Leben voller ihr fremder Genüsse. Die beiden trinken Wein und kochen köstliche Gerichte, sie rauchen, diskutieren, flirten und streiten und sind sich bei alldem unübersehbar nah. Zu Frances’ Überraschung suchen Cara und Peter den Kontakt zu ihr. Ist sie zu Beginn in der Rolle der Voyeurin, teilt sie zunehmend mehr mit ihnen. Caras Sexappeal regt Frances’ Fantasie an, sie fühlt sich zu ihr wie zu Peter hingezogen, und der scheint ihre Gefühle zu erwidern.
Aber hat Peter wirklich mehr als ein freundschaftliches Interesse an Frances, wie diese glaubt? Für die Leser*innen scheint es immer öfter fraglich, was von Frances’ Einschätzung zu halten ist. Ihre Unerfahrenheit und ihre Bedürftigkeit machen sie zu einer unzuverlässigen Erzählerin. Der Nebel, der sich mit dem Spätsommer über die englische Landschaft legt, hüllt zunehmend auch die Geschichte ein. Es wird immer unklarer, was wirklich passiert, und auch die Gegensätzlichkeit von Frances und Cara verschwimmt.
Auf seine Weise hat Bittere Orangen etwas von einem psychologischen Thriller mit übersinnlichen Elementen. In der Luft liegen unausgesprochene Gefühle – Eifersucht, Begehren, unterdrückte Wut –, hinter einem Fenster sieht Frances jemanden stehen, der dort eigentlich nicht sein kann, unter der Badewanne sind menschliche Geräusche zu hören, tote Vögel scheinen ihr präsentiert zu werden wie bedeutsame Gaben. Der Roman lässt sich Zeit damit, sein Szenario zu entfalten, sodass ich ungefähr zum Ende des ersten Drittels fast die Geduld verloren hätte. Aber zum Glück habe ich weitergelesen, denn die unglaublich dichte, unvergessliche Atmosphäre und die faszinierenden Figuren ziehen einen bald in ihren Bann, und das Ende des Romans ist so überraschend wie plausibel. Wie eine Schlingpflanze wickelt einen diese Geschichte ein, unbemerkt, bis man sich nicht mehr lösen kann.
Nicole Seifert
Claire Fuller
Bittere Orangen
Aus dem Englischen von Susanne Höbel
Roman
Piper Verlag
352 Seiten
22 Euro
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