Kurz und knapp: Drei Höhepunkte aus dem Juli

In meinen freien Sommerwochen habe ich mal keine Neuerscheinungen gelesen, sondern Bücher, die schon länger im Regal auf ihren Einsatz warteten. Von dem Riesenstapel, den ich mit auf die Insel genommen habe, ist ungefähr die Hälfte nach spätestens hundert Seiten auf den „Abgebrochen“-Stapel gewandert, von den durchgelesenen haben diese drei es mir ganz besonders angetan: Amy und Isabelle, der 1998 veröffentlichte Debütroman der Amerikanerin Elizabeth Strout, der psychologisch und erzählerisch virtuos von einer alleinerziehenden Mutter und ihrer sechzehnjährigen Tochter in einer amerikanischen Kleinstadt der Sechzigerjahre erzählt. Die perfekte Ergänzung dazu war Vivian Gornicks Memoir Ich und meine Mutter, das nach dreißig Jahren nun erstmals auf deutsch vorliegt – ein Essay über Liebe und Missgunst, Pflichten und Sorgen im Verhältnis von Müttern und Töchtern. Auch in dem ganz leichtfüßig daherkommenden und dabei künstlerisch vollendeten, im Original 1947 erschienenen Roman Blick auf den Hafen der britischen Autorin Elizabeth Taylor (nicht zu verwechseln mit der Schauspielerin) geht es um Mütter und Töchter, wenn auch nur am Rande. Mit wunderbar leichtem Strich skizziert Taylor das Leben der Bewohner*innen eines britischen Küstenstädtchens, ihre Lieben und Affären, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen.

 

Amy Isabelle von Elizabeth Strout
Amy Isabelle von Elizabeth Strout

Amy Goodrow ist das schüchterne, einzige Kind der alleinerziehenden Isabelle, die – angeblich nach dem Tod ihres Mannes – in eine ihr fremde amerikanische Kleinstadt gezogen ist, um ihre Tochter dort aufzuziehen und sich mit Büroarbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zu ihren Kolleginnen bleibt sie auf Abstand, und auch sonst sucht sie kaum Kontakt im Ort. Entsprechend eng und überfrachtet ist das Verhältnis zu ihrer Tochter Amy. Als diese heranwächst und beginnt, ihre eigenen Wege zu gehen, gerät das Verhältnis von Mutter und Tochter aus dem Gleichgewicht, was vor allem für Isabelle kaum zu ertragen ist. Elizabeth Strout erzählt diese Geschichte aus der Perspektive von Mutter und Tochter, beim Lesen fühlt und erlebt man im Wechsel mit der einen und dann mit der anderen, erlebt beide von innen und außen – was extrem gut gelungen ist. Elizabeth Strout ist eine Meisterin des Psychogramms und findet für die vollkommen nachvollziehbaren Sehnsüchte und Abgründe der Protagonistinnen treffende Bilder. Das Leben beider ist geprägt von Isabelles Geschichte, über die jedoch nicht gesprochen wird, und dieses Unterdrückte gewinnt immer größere Macht über die beiden, je größer Amy wird. Wie das erzählt wird, wie die Komplexität dieser Mutter-Tochter-Beziehung und die Zustände und Gefühle der anderen Figuren geschildert gemacht werden, das ist schlicht großartig, menschlich wie literarisch. Bereichernd in jeder Hinsicht!

Elizabeth Strout
Amy & Isabelle
Roman
Deutsch von Margarete Längsfeld
btb Verlag
416 Seiten
9,99 Euro

 

Ich und meine Mutter von Vivian Gornick

Ich und meine Mutter gilt  in den USA seit dreißig Jahren als Klassiker der „Frauenliteratur“, womit in diesem Fall feministische Literatur gemeint ist. Vivian Gornick, 1935 in New York geboren, Autorin, Journalistin und Essayistin, wuchs in den Vierzigerjahren in einem jüdischen Viertel der Bronx auf, inmitten unterschiedlichster Nachbarinnen, die tiefen Eindruck auf die Heranwachsende machten und sie im Geiste ein ganzes Leben lang begleiten sollten. Im Zentrum des Textes steht ihre eigene Entwicklung und die Beziehung zu ihrer Mutter, einer aus einfachen Verhältnissen stammenden Frau von großer Entschiedenheit, die den Sinn ihres Lebens in der Liebe zu ihrem Mann sah. Als dieser unerwartet starb – die Autorin war dreizehn –, wurde die Trauer zum bestimmenden Thema im Leben von Gornicks Mutter, und das für Jahrzehnte. Diese Vergangenheit ist die eine Erzählebene, die andere bilden die Spaziergänge durch Manhattan, die die Autorin als Mittvierzigerin mit ihrer bald achtzigjährigen Mutter machte. Die beiden flanieren und erinnern sich, erzählen und streiten. Vordergründig geht es dabei um Vorwürfe und Verletzungen und die Frage, wer was (für die andere) hätte tun sollen. Aber Gornick gewinnt dem Ganzen mehr ab: Es geht um weibliche Lebensentwürfe und darum, welche Möglichkeiten die beiden Frauen in der Liebe und in der Arbeit hatten oder hätten haben können, ums Alleinsein und um Erfüllung, um Abhängigkeit und Unabhängigkeit und den Preis, der für das eine wie für das andere zu zahlen ist. Das ist mehr als ein Gespräch zwischen Generationen, denn es geht ganz zeitunabhängig um die enge Verbindung von Müttern und Töchtern trotz allen Sich-kaum-ertragen-könnens. In einem Interview für ZEIT ONLINE sagte Gornick, ihr wäre erst, als ihre Mutter mit 94 Jahren im Sterben lag, bewusst geworden, wie sehr sie einander liebten und brauchten. – Das Dokument einer persönlichen Erfahrung, das doch weit über diese hinausgeht.

Vivian Gornick
Ich und meine Mutter
Deutsch von pociao
Penguin Verlag
224 Seiten
20 Euro

 

 

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Jetzt schon ein Highlight dieses Lesejahres ist für mich dieser im Original 1947 erschienene Roman, der in der Übersetzung von Bettina Abarbanell 2011 im Dörlemann Verlag herauskam. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist im englischen Küstenstädtchen Newby quälend wenig los. Die paar Bewohner*innen, die in der Wäscherei, der Kneipe oder dem Wachsfigurenkabinett arbeiten, kennen sich alle untereinander, leben ereignislos vor sich hin und beobachten sich dabei genauestens. Eine besondere Stellung im Ort wie in der Geschichte hat die Familie des Arztes, dessen Frau Romane schreibt und schon seit Schulzeiten mit Tory Foyle befreundet ist – einer stil- und selbstbewussten Frau, die so gar nicht in dieses kleines graue Städtchen passen will und so ihre Geheimnisse hat. Die Erzählstimme gleitet elegant von einem Bewusstsein ins andere, wir lernen alle Figuren von innen heraus kennen, ihre Hoffnungen und Illusionen, Ängste und Nöte, ihre Einsamkeit und ihre Träume, und wir beobachten mit ihnen, was nur sie sehen. Angela Schader bezeichnete Elizabeth Taylor in der NZZ als „Meisterin dessen, was die Briten anerkennend «light touch» nennen – in der funkelnden Ironie ebenso wie angesichts der letzten Dinge.“ Es sind scheinbar mit leichter Hand hingeworfene Striche, impressionistische Farbtupfer, die ein Leben skizzieren, Bewusstseinswelten öffnen und Bezüge herstellen – das ist ganz große Kunst und gehört in die Nähe von Virginia Woolf und den anderen Frauen des Bloomsbury-Kreises und damit fraglos in die literarische Moderne. Eine wunderbare Lektüre! Vor ein paar Jahren habe ich schon Elizabeth Taylors Versteckspiel geliebt, keine Ahnung, warum ich jetzt erst wieder etwas von ihr gelesen habe. Bald gibt es auf dem Blog mehr über diese Autorin zu lesen, die mit ihrem Namen immer im Schatten von Liz Taylor stand und vom Publikum zu Lebzeiten weitgehend ignoriert wurde.

Elizabeth Taylor
Blick auf den Hafen
Deutsch von Bettina Abarbanell
Dörlemann Verlag
384 Seiten
24 Euro

Nicole Seifert

 

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

2 Kommentare zu „Kurz und knapp: Drei Höhepunkte aus dem Juli

  1. Das Buch „Ich und meine Mutter“ habe ich mir jetzt bestellt. Es passt gerade gut zu meiner eigenen Lebenserfahrung – ich hoffe meine Mutter und ich können unsere Liebe füreinander auch finden.

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