Die 1975 geborene Sarah Moss ist dem Independent zufolge „zweifellos eine der besten britischen Autorinnen der Gegenwart“. In Deutschland ist sie noch weitgehend unbekannt, man könnte auch sagen: ein Geheimtipp. Gerade ist bei mare ihr vierter Roman erschienen, Gezeitenwechsel – ein Buch, das mir besonders am Herzen liegt, denn ich habe es ins Deutsche übersetzt. Als Übersetzerin liest man ein Buch viele Male: bevor man sich an die Arbeit macht, währenddessen, man überarbeitet den eigenen Text und liest ihn dann noch einmal gegen. Später sieht man die lektorierte Fassung durch, und einige Wochen darauf kommen dann die Druckfahnen, die auch noch mal auf letzte Unstimmigkeiten gelesen werden müssen. Die Lust dazu hält sich, nachdem man ein Buch schon so gut kennt, manchmal in Grenzen, aber bei Gezeitenwechsel habe ich mich aufs Lesen der Fahnen gefreut. Es ist ein Buch, das dem häufigen Wiederlesen standhält, das für mich mit jedem Mal noch gewonnen hat. Es geht, wie so oft bei Sarah Moss, ums Elternsein, ums Lieben, um Leben und Tod; dabei wird es immer auch politisch.
Adam, Anfang vierzig, verheiratet mit der Ärztin Emma, hauptberuflich Vater von zwei schulpflichtigen Töchtern und nebenberuflich freier Dozent, erhält eines Vormittags einen Anruf:
Hier spricht Victoria Collier, sagte sie, und ich brauchte einen Augenblick, bis mir klar wurde, dass es Mrs. Collier war, die Rektorin von Miriams Schule. (…) Es ist etwas passiert, sagte sie, mit Miriam.
Adams fünfzehnjährige Tochter hat auf dem Schulhof einen Herzstillstand erlitten, ohne zunächst ersichtlichen Grund. Sie lebt, aber sie muss sofort ins Krankenhaus. Dort verbringt Adam die nächsten Tage an ihrer Seite. Es dauert, bis die Ärzte die Diagnose haben: Anaphylaxie, eine akute allergische Reaktion des Immunsystems. Die Ursache lässt sich nicht ermitteln, was bedeutet, dass sich ein Vorfall wie dieser theoretisch jederzeit wiederholen kann – eine Aussicht, die Adam eine ganz neue Dimension der Sorge um sein Kind erschließt und ihn von nun an vollkommen beherrscht:
Man macht sich Sorgen, dass sie auf die falschen Partys geht und die falschen Drogen nimmt oder am selben Tag in ein Flugzeug steigt wie ein zorniger Mensch, der nichts zu verlieren hat. Aber man macht sich keine Sorgen, es kommt einem nicht mal in den Sinn, dass sie eines Tages einfach aufhört zu atmen, auf dem Schulhof einen Herzstillstand hat, nicht weil ein Auto sie überfahren hätte oder ein Virus sie krank gemacht hat oder eine Klinge sie geschnitten oder Feuer ihr Fleisch verbrannt hat, kein Weil. Wie sollte man noch leben können, wenn man sich darum Sorgen machte?
Adam ist mit der Situation weitgehend allein gelassen, nicht nur, weil seine Frau sehr viel arbeitet, sondern auch, weil ihr als Ärztin ein anderer Umgang mit der Diagnose ihrer Tochter möglich ist. Adam versucht sich einzureden, dass ein Schock per Definition ein vorübergehender Zustand ist, dass man gar nicht monate- und jahrelang in Angst leben kann, selbst wenn das Schockierende bleibt. Krankenhausbesuche werden normal werden, sagt er sich, sie sind eben jetzt keine normale Familie mehr, sondern eine Familie, der etwas Furchtbares passiert ist. Während seine Tochter, der es vordergründig gut geht und die sich im Krankenhaus langweilt, betont flapsig mit der Situation umgeht, ist es Adam anfangs kaum möglich, ihr Krankenzimmer zu verlassen, aus Angst, sie könnte nicht mehr leben, wenn er zurückkommt.
Als er mit seiner Tochter wieder zu Hause ist, kann er sie kaum aus den Augen lassen, geschweige denn aus dem Haus, dabei soll sie bald wieder zur Schule gehen, und auch er kann seine Arbeit nicht ewig liegen lassen. Nachts schreckt er hoch und versucht, Miriams Atem zu hören, bis seine Frau ihn bittet, sich nicht verrückt zu machen, schließlich sei das, worauf er lausche, Stille, und die könne man nicht hören. Doch eines Nachts hört Adam Miriam weinen. Er geht zu ihr, sie sprechen miteinander, und schließlich fragt sie ihn: Hättet ihr mich begraben oder verbrannt? Und so abwehrend Adam reagiert – er hat sich die Frage auch schon gestellt, ertappt sich immer wieder dabei, sich die Beerdigung vorzustellen, in Gedanken den Weg zu gehen, den sie beinahe hätten gehen müssen.
Wie er diesen Zustand überwindet, wie die Familie in einen veränderten Alltag zurückfindet, mit der Angst, mit dem Tod leben lernt, wie sie wieder offen wird für das Schöne, ins Leben zurückfindet, das erzählt Sarah Moss reflektiert und sensibel, auch schonungslos, aber vor allem: tröstlich. Ein Roman, dem ich viele Leser*innen wünsche, und den ich vielen Leser*innen wünsche.
Nicole Seifert
Sarah Moss
Gezeitenwechsel
Roman
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
mare
368 Seiten
24 Euro
Hallo,
das klingt nach einem hervorragenden Buch, das ich mir direkt auf die Merkliste setze. Wenn die Übersetzerin es wieder und wieder und wieder lesen kann, muss das ja was heißen!
LG,
Mikka
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[…] Vielen Dank an den Mare Verlag für dieses Rezensionsexemplar. Weitere Rezensionen zum Buch: AstroLibrium | Leckere Kekse und mehr | Nacht und Tag […]
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