Nicht ganz normal und nicht besonders beliebt

… so beschreibt sich die Protagonistin von Jane Gardams Roman Weit weg von Verona  gleich zu Beginn. Die mittlerweile neunzigjährige Autorin ist in Deutschland in den letzten Jahren mit ihrer Trilogie Ein untadeliger Mann, Eine treue Frau und Letzte Freunde bekannt geworden. Nun bringt der Hanser Berlin Verlag Gardams im Original bereits 1971 erschienenes Debüt heraus, von Isabel Bogdan ganz wunderbar ins Deutsche übersetzt.

Es ist ein unglaublich lebenskluger, charmanter und humorvoller Roman, der auf gerade mal 240 Seiten ein entscheidendes Jahr im Leben der dreizehnjährigen Jessica Vye erzählt. Jessica lebt während des Zweiten Weltkriegs mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einem kleinen Ort an der englischen Südküste. Sie hält sich für nicht ganz normal, weil sie Schriftstellerin werden möchte, und reibt sich an so ziemlich allem in ihrer Umgebung: an ihren Mitschülerinnen, die sich nie irgendwas trauen, an den Lehrerinnen, die ihr sehr überwiegend vollkommen borniert erscheinen, und natürlich an ihren Eltern, deren Verhalten auf sie relativ rätselhaft wirkt. Wie Gardam das erzählt, das ist einfach großartig und ein einziges Vergnügen, weil es bei ihr eben nicht nur zum Schmunzeln ist, dass die übliche Sichtweise (Pubertierende haben nun mal unnachvollziehbare Launen) umgedreht wird. Hier wird die Perspektive der Dreizehnjährigen im Gegenteil so nachvollziehbar dargestellt, dass plötzlich vollkommen logisch erscheint, wie unverständlich das Verhalten der Erwachsenen nur auf sie wirken kann.

Einige Rezensent*innen haben bemängelt, dass in diesem Buch nicht viel passiert. Nun ist es in der Tat nicht gerade ein handlungsgetriebener Spannungsroman. Es ist ein Entwicklungsroman, es geht um die Protagonistin und ihre Herzens- und Charakterbildung, um Freundschaft und Liebe, um Leidenschaften, um Literatur und Religion – es geht um alles. Es ist ein Jahr, in dem Jessica einen Schulwechsel und einen Umzug erlebt, die erste Verliebtheit, eine Bombardierung und ihre Folgen, mehrere wegweisende Begegnungen und Gespräche und ein Ereignis, das sie in ihrem gewagten Berufswunsch bestärkt. Es sind Erlebnisse mit Freundinnen und anderen Mitmenschen, Gespräche mit ihrem Vater und mit Lehrerinnen, die Jessica fühlen und erkennen lassen, was sie richtig und wichtig findet, sei es wegen oder trotz mancher (vermeintlicher) Autorität.

Gardam erzählt diese entscheidende Zeit im Leben von Jessica Vye so lebensnah und menschlich, so unterhaltsam und klug, so wunderbar eigensinnig, humorvoll und very british, dass ich am Ende des Buches am liebsten applaudiert hätte. Ein kleines, ganz großes Buch für alte und junge Erwachsene, deren hinreißende Protagonistin man einfach lieben muss.

Nicole Seifert

Jane Gardam
Weit weg von Verona
Aus dem Englischen von Isabel Bogdan
Roman
Hanser Berlin Verlag
240 Seiten
22 Euro

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

2 Kommentare zu „Nicht ganz normal und nicht besonders beliebt

  1. Hallo, vielen Dank für die schöne Rezension. Mir hat dieser Roman auch sehr gut gefallen; ich liebe Jane Gardams Witz, ihre genaue Menschenbeobachtung. Bis jetzt hat mich noch kein Buch von ihr enttäuscht: Die Old Filth Trilogie ist wunderbar und auch ihre Erzählungen sind lesenswert. Ich bin auf weitere Übersetzungen gespannt.
    Liebe Grüße
    Ruth

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