Kurz und knapp

Alle, außer mir  von Francesca Melandri & Wie viele Tage  von Andrea Scrima

 

„Seit den Zeiten der Königin von Saba und des Königs Salomon“, hatte ihre Großmutter gesagt, „passieren zwei Dinge, wenn Fremde aufeinandertreffen: Krieg oder Liebe. Und häufiger noch beides zugleich.“

In Alle, außer mir von Francesca Melandri passiert beides zugleich, als der Protagonist dieses Romans, Attilio Profeti, sich im Italienisch-Äthiopischen Krieg von 1935 trotz seiner rassistischen Überzeugungen in eine Äthiopierin verliebt und mit ihr einen Sohn zeugt. 2010 steht der Sohn dieses Sohnes vor der Tür von Ilaria, der 46-jährigen Tochter von Attilio Profeti. Er ist geflohen, war in verschiedenen Durchgangslagern und in Gefangenschaft und hat den Abschiebebescheid schon in der Tasche. Seine einzige Hoffnung, in Italien bleiben zu dürfen, sieht er in seiner italienischen Familie, auch wenn die bisher nichts von ihm wusste und der mittlerweile über neunzigjährige Vater dement ist. Für Ilaria beginnt damit eine Spurensuche, die einige Grundannahmen erschüttern wird, nicht nur über ihren Vater, auch über sich selbst.

Ich bin hin und hergerissen, was diesen Roman betrifft. Am Anfang, als ich Ilaria für  die Protagonistin hielt, entfaltet die Geschichte einen wirklichen Sog; leider lässt der aber mit der Zeit nach, was auch an den etwas arg vielen Details, Figuren und erzählerischen Exkursen liegt, die mir nicht immer relevant erscheinen und manchmal ein bisschen was von Geschichtsbuch haben. Die zweite Hälfte spielt fast nur noch in der Vergangenheit, die Handlungsebene in der Gegenwart rückt zugunsten der Kriegsgeschehnisse und der Backstory mehr und mehr in den Hintergrund und erweist sich schließlich als unerwartet handlungsarm. Trotzdem sind in dieser zweiten Hälfte ein paar tolle Szenen, insbesondere die Liebesgeschichte zwischen Attilio und der Äthiopierin. Übrigens fand ich die Sexszenen, die Christine Westermann und Martin Schulz im Literarischen Quartett des Guten zu viel waren, ziemlich gelungen und für die Handlung und Charakterisierung der Figuren auch entscheidend. Aber insgesamt: Trotz der wichtigen Themen Flucht, Rassismus und Faschismus und des guten Beginns für mich letztlich kein vollkommen überzeugender Roman. Sehr gelungen scheint mir (ohne Italienisch zu können) jedoch die sehr gut lesbare Übersetzung von Esther Hansen.

Francesca Melandri
Alle, außer mir
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Roman

Wagenbach 
608 Seiten
26 Euro

*

Wenn ich mich doch bloß verwandeln könnte, von einem Augenblick zum anderen in einen Vogel oder in einen Schmetterling; ich würde mich auf deiner Schulter niederlassen, ich wäre ein Moment des Entzückens und nicht dieser Schmerz, den ich zu verbergen suche. Wieder und wieder ertappe ich mich bei der Suche nach einem Zeichen, nach einem Hinweis, dass ich am Leben bin und nicht bloß träume.

Wie viele Tage ist das Debüt der aus New York stammenden und in Berlin lebenden Künstlerin Andrea Scrima (Jahrgang 1960). Dieses Buch einen Roman zu nennen, ist irreführend, denn es ist in der Form viel freier, ist weder plot-driven, noch character-driven, eher so etwas wie impression-driven. Assoziativ werden Erinnerungen reflektiert, Orte beobachtet und Menschen und die Dinge in ihrer Materialität. Es sind intensive Wahrnehmungen scheinbar profaner Szenen, die plötzlich relevant und poetisch werden. All diese Momentaufnahmen verdichten sich zu einer Atmosphäre, einer Ahnung von Zusammenhängen. Nach und nach setzt sich ein Bild des Lebens der Künstlerin zusammen, entfernt vergleichbar mit Claire-Louise Bennetts Roman Der Teich, aber in der urbanen, rohen Umgebung des New Yorks und Berlins der 80er und 90er Jahre. Vieles bleibt offen, rätselhaft, das erscheint jedoch nur (folge-)richtig. Andreas Scrimas Debüt ist eigen und experimentell und mindestens für alle interessant, die ungewöhnliche Literatur lieben, die einen künstlerischen Blick haben (Stichwort Materialität der Dinge), die selbst schreiben, die New York oder Berlin (schon länger) lieben, … Ein ganz besonderes Buch, auf das man sich einlassen wollen muss. Ich hab es sehr gemocht.

Andrea Scrima
Wie viele Tage
Roman
Aus dem Amerikanischen von Barbara Jung
Literaturverlag Drosch
192 Seiten
23 Euro

Nicole Seifert

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..