„Wie erklärt man seinen Kindern, dass die meisten Beziehungen in ihren ersten Lebensjahren in die Brüche gehen, dass in dieser Zeit die Konflikte entstehen, die Unzufriedenheit, die Streitereien […]. Davor – bevor ihr kamt, mit offenen Mündern schreiend hungrig ewig wach – sprachen wir freundlich miteinander, gab es Liebe. Sorry, tut uns leid, aber ihr habt gefragt, und jetzt sagen wir einfach, wie es ist.“
Elternteile ist der dritte Roman der 1976 in Oslo geborenen Monica Isakstuen, für den sie vor zwei Jahren den Brage-Preis bekam, den wichtigsten Literaturpreis Norwegens. Es ist ein schonungslos offener Roman, erzählt in klarer Sprache und kurzen Kapiteln, manchmal steht auf einer Seite nur ein Absatz, manchmal nur ein Satz. Es gibt genau eine Erzählperspektive, einen Handlungsstrang, sodass man sehr nah dran ist an der Protagonistin, deren Ehe zerbricht, als ihre Tochter gerade drei Jahre alt ist. Woran sie zerbricht, erfährt man nicht, ganz genau scheint Karen es selbst nicht zu wissen, aber darum geht es auch nicht, denn dies ist kein Liebes-, kein Eheroman. Es geht um die Zeit nach der Trennung, und es geht einzig und allein um Karens Beziehung zu ihrer Tochter Anna, um ihre Mutterrolle, und ein bisschen um ihre Tochterrolle, denn auch die verändert sich durch die Trennung. Schien sie in der Zeit, in der sie einen Mann und eine Familie hatte, einen Panzer zu haben, den die spitzen Bemerkungen ihrer Mutter nicht durchdrangen, wird sie, als sie wieder allein dasteht, erneut behandelt wie ein Kind – ein Kind, das alles falsch gemacht hat, das an der einzigen Aufgabe gescheitert ist, auf die es ankommt.
Karens größtes Problem ist, dass ihre Tochter nur jede zweite Woche bei ihr ist, die andere bei ihrem Ex-Mann. Sie leidet in der Woche, in der sie Anna nicht bei sich hat, und hat Mühe, ihre Rolle zu finden. Sie kann nicht genießen, dass sie sich um nichts kümmern muss, will nicht feiern gehen, schließlich ist sie immer noch Annas Mutter. Oder ist sie das nicht, wenn sie sich nicht um sie kümmert? Aber was ist sie dann? Karen leidet unter Schuldgefühlen, die unbestimmt religiös begründet zu sein scheinen. Mehr als einmal bekommt der Satz Kein Mensch soll seinen Vergehen entkommen eine ganze Seite für sich. Karen quält die zu diesem Zeitpunkt unmöglich zu beantwortende Frage, was sie ihrem Kind da angetan hat, was andernfalls hätte werden können. Zeitweise ist für sie alles so unerträglich, dass sie sich Dokumentarfilme anschaut über aussterbende Tierarten, Naturkatastrophen und humanitäre Desaster, um den einen Schmerz mit einem andern zu betäuben.
Sehr genau wird hier nachvollzogen, was nach einer Trennung geschieht, bei der Kinder involviert sind: Die Unternehmungslust lässt nach, die Motivation, etwas Richtiges zu kochen. Plötzlich wird immer wieder derselbe Lieblingsfilm der Tochter gesehen, auch mehrfach hintereinander. Daran, mal Lust auf Ausflüge gehabt zu haben, auf das gemeinsame Basteln von Weihnachtskarten, auf Backen, Pflanzen, Planen kann Karen sich nur noch erinnern. Ihr Ehrgeiz ist es, diesen Zustand vor ihrer Tochter zu verbergen, aber das wird schwieriger, je schlechter es ihr geht, zumal Anna dem Kleinkindalter langsam entwächst. Der Moment, in dem Karen nicht mehr kann und Anna sie zu trösten versucht, ist einer von mehreren, in denen ich das Buch zuklappen musste, um aus dem Zugfenster zu gucken und tief durchzuatmen.
Immer wieder stellt Monica Isakstuen Bezüge zum Tierreich her, erzählt von Versuchen mit Ratten, die von ihrer Mutter getrennt wurden, von Katzenmüttern, die sich schnell von ihren Babys lösen und sie schon bald nicht wiedererkennen. Welche Bedeutung diesen Beobachtungen beigemessen wird, welche Rückschlüsse daraus gezogen werden, sei jedem selbst überlassen; psychologisch und metaphorisch leuchten sie jedenfalls ein, fühlt man sich im Leben doch selten so aufs Kreatürliche, Archaische zurückgeworfen wie als junge Mutter. Für diese Zustände Worte zu finden, die auch Unschönes, bisher selten Gehörtes aussprechen, ist Monica Isakstuens großes Verdienst. Es ist, wie es auf dem Buchumschlag steht, „ein Buch über Gefühle, die wir uns oft verbieten“ und von denen demzufolge wenig gesprochen wird – was zur Folge hat, dass es auch wenig Verständnis für sie gibt. Geschichten wie diese können das ändern, machen es jedenfalls niemandem leicht, Urteile zu fällen. Elternteile ist die Nahaufnahme einer sehr speziellen Lebenssituation, es gibt nur ein Thema, dem in aller Konsequenz nachgegangen wird, und das ist zugleich die Schwäche wie die Stärke dieses Romans.
Nicole Seifert
Monica Isakstuen
Elternteile
Roman
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
Eichborn Verlag
224 Seiten
22 Euro
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