Was leider in der letzten Zeit auf meinem Blog viel zu kurz kommt: ausführliche Rezensionen, die sich ein Buch ganz genau ansehen. Das soll wieder anders werden, aber heute ist es noch nicht so weit. Da mir nicht alle Abonennt*innen auf Instagram oder Twitter folgen und wahrscheinlich die wenigsten regelmäßig die Neuigkeiten auf dem Blog anklicken oder sich die Seitenleiste genauer ansehen (in der mobilen Version nicht rechts, sondern ganz unten), schicke ich den heutigen Kurzrezensionen dieses anhaltend tollen Bücherfrühlings ein paar Anmerkungen in eigener Sache voraus.
Dass mir die Zeit für längere Rezensionen fehlte, liegt an dem Sachbuch, das ich im Laufe des vergangenen Jahres geschrieben habe. Frauen Literatur ist jetzt abgegeben und wird am 9. September 2021 bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen. Es geht um die Frage, ob man die Bücher, die man liest, nach Geschlecht aussuchen sollte (Natürlich nicht! Oder doch?) und darum, warum eigentlich in der Schule bis heute kaum Literatur von Autorinnen vorkommt. Ich gehe der Frage nach, ob es eigentlich sowas wie „weibliches Schreiben“ gibt, zeige, dass die Bücher von Autorinnen bis heute mit anderem Maßstab gemessen werden, als die ihrer männlichen Kollegen, und schlage vor, was man tun könnte, um das endlich zu ändern. Lesungen aus meinem Buch in verschiedenen Städten sind gerade in Planung, und ich hoffe sehr, dass wir diese Pläne nicht mehr pandemiebedingt umschmeißen müssen. Die Termine werde ich rechtzeitig hier posten – unter „Neuigkeiten“ und in der Seitenleiste (dort ist aktuell schon das schöne Cover zu sehen; klickt man es an, geht es zum Klappentext).
Eine weitere Neuigkeit, die eine Zeitlang auch Auswirkungen auf den Blog haben wird: Es gibt einen neuen Literaturpreis, ausgelobt vom Branchennetzwerk BücherFrauen, das mich zu meiner Freude gefragt hat, ob ich der dreiköpfigen Jury angehören möchte. Die Christine ist benannt nach der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Christine de Pizan, die im 14./15. Jahrhundert lebte und als eine der ersten Berufsschriftstellerinnen gilt. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert und wird erstmals im November 2021 und dann alle zwei Jahre an eine Autorin vergeben, die mit ihrem Schreiben zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Stärkung von Frauen und Mädchen beiträgt. Bis dahin werden die Verlegerin Britta Jürgs, die Buchhändlerin Susanne Martin und ich uns durch die vielversprechende Liste der nominierten Titel lesen – über die ich natürlich leider erst anschließend berichten kann. Aber zwischendrin wird sicher noch Zeit sein für das ein oder andere Buch, das nicht auf dieser Liste steht, und das ich hier besprechen kann.
In den letzten Wochen habe ich ausschließlich schmale Romane und Erzählungen gelesen, von denen ich hier die vorstellen möchte, die mir am besten gefallen haben.

Dramaturgisch und psychologisch extrem gut gemacht ist der kurze Roman Erwachsene Menschen von der Norwegerin Marie Aubert. Zwei Schwestern Ende dreißig; die ältere, Single, besucht die jüngere, die mit ihrem Freund und dessen kleiner Tochter im alten Ferienhaus der Familie der Schwestern Urlaub macht. Die Geschwisterrivalität zwischen den beiden, diesen passiv aggressiven Ton fand ich anfangs vor allem amüsant, aber dann wird immer klarer, was eigentlich los ist und – als auch die Mutter zu Besuch kommt –, woher es rührt. In diesen wenigen Tagen geht viel Porzellan zu Bruch, kommt – mehr oder weniger explizit – viel zur Sprache und entscheidet sich viel. Und all das entwickelt sich vollkommen organisch, nichts wirkt hier erzwungen. Genauso unauffällig kommt das Ende daher, das für die Protagonistin aber doch ein Durchbruch ist. Sehr wahr und sehr erhellend, vielleicht meine liebste Lektüre der letzten Wochen.
Marie Aubert, Erwachsene Menschen, Roman – Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein – Rowohlt Verlag, 172 Seiten, 22 Euro

Leer und karg ist es in Judith Hermanns neuem Roman. Graue Küstenlandschaft, große alte Häuser, in denen Menschen allein leben. In diese Welt kommt Hermanns Protagonistin, nachdem ein Abschnitt ihres Lebens zu Ende gegangen ist. Sie ist nicht gekommen, um zu bleiben, will keine Wurzeln schlagen. Vieles ist vorbei, auch ihre Ehe, und sie empfindet „eine verrückte Sehnsucht nach allem, was ich einmal hatte“. Sie will lernen, ohne ihre Tochter zu sein, die ausgezogen und auf Reisen gegangen ist, und fragt sich, was für sie selbst noch kommt, ob noch was kommt. Einmal denkt sie, vielleicht muss sie bald sterben, dann wieder der Gedanke, sie könnte nochmal eine andere sein, woanders leben, andere Menschen lieben.
„Das Land ist flach, alles was kommt oder geht, tritt deutlich zu Tage.“
Die Unbehaustheit von Judith Hermanns Figuren, ihre Traumata und ihre Ziellosigkeit haben etwas Erschreckendes, da hat niemand große Träume, da macht sich niemand etwas vor. Aber dann kippt die Perspektive, und genau dieses eben noch Erschreckende wirkt geradezu beispielhaft und wie die einzige Lösung: sich ungeschönt anzusehen, was man (noch) hat, es anzunehmen und zu leben.
Das Hauptmotiv dieses schmalen, beeindruckenden Romans, das in drei Varianten vorkommt, ist die Kiste, in der ein Wesen gefangen (gehalten) wird, und es ist eng verbunden mit der Frage: reisen oder bleiben? Judith Hermann verbindet diese Motive unaufdringlich kunstvoll. Das aufs äußerste Reduzierte ihres Stils, der vor gut zwanzig Jahren eine literarische Sensation war, ist hier ganz zu sich gekommen. Inhalt und Sprache sind in Daheim so sehr eins, bedingen einander wie vielleicht noch in keinem ihrer vorigen Bücher. Ein sehr besonderer, beeindruckender Roman, den Endzeitstimmung und Hoffnung durchziehen wie Licht und Dunkel den Küstenhimmel.
Judith Hermann, Daheim, Roman – S. Fischer Verlag, 190 Seiten, 21 Euro

Endlich erschienen ist mein liebstes Übersetzungsprojekt aus dem Jahr 2019. Geisterwand ist eigentlich eine richtige Novelle: kurz und knapp und mit einer unerhörten Begebenheit, bei der einem wirklich der Atem stockt. Eine heiße, trockene Sommerwoche, ein Camp, in dem ein Professor mit seinen Studierenden das Leben zur Eisenzeit nachempfinden will, und mittendrin die 17-jährige Silvie, die wegen ihres geschichtsbesessenen Vaters da reingeraten ist … „Dieses Buch hat einen im Griff wie ein Schraubstock“, schrieb der Guardian, und über Sarah Moss, die hierzulande völlig zu unrecht noch gar nicht so richtig wahrgenommen wird, hieß es dort:
For novelists, there are two paths to a place in the literary firmament. The first (and undeniably the ritzier) involves the publication of a novel, generally a debut, that bursts forth in such a blaze that its author remains permanently backlit by it. The second is slower, quieter, less sensational but ultimately perhaps more sustainable: the steady brightening of a reputation over the course of several books, until finally it’s impossible to imagine a time when the author wasn’t a fixed point in the heavens. […] The real trick is spotting them before they get there.
Sarah Moss, Geisterwand, Roman – Aus dem Englischen von Nicole Seifert – Berlin Verlag, 158 Seiten, 20 Euro

Die Erzählungen von Eva Schmidt aus dem Band Die Welt gegenüber sind Momentaufnahmen, denen der plot auf den ersten Blick zu fehlen scheint, die einen aber vielleicht gerade deshalb nicht so schnell loslassen. Noch lange nach der Lektüre spuken mir die Figuren im Kopf herum, sehe ich Landschaften vor mir, muss an Stimmungen und Lebenssituationen denken, die Eva Schmidt für ihre Figuren geschaffen hat. „Die Welt gegenüber“ ist die Welt der Nachbarn, die Welt der Menschen, mit denen / neben denen man lebt, ohne doch eigentlich etwas von ihnen zu wissen, die man nur beobachten kann. Die Erzähler*innen sind hier für sich, selbst wenn sie mit anderen zusammenleben. Sie beobachten sich, bleiben für sich, teilen sich nur in Ansätzen mit und sind doch auf die anderen angewiesen. So grau und trist wie das klingt (und wie das Cover vielleicht vermuten lässt) ist das aber nicht, im Gegenteil, gerade durch diese Grundsituation gibt es Risse, durch die Licht hereinfällt, gibt es gute Begegnungen und letztlich eben doch so etwas wie gemeinsame Momente.
Eva Schmidt, Die Welt gegenüber, Erzählungen – Jung und Jung, 218 Seiten, 22 Euro

Ein Roman, den es bis auf weiteres nur im englischen Original zu lesen gibt, wurde in Großbritannien gerade wiederentdeckt – achtzig Jahre nach dem Tod der Autorin Gertrude Eileen Trevelyan, die 1941 mit 37 Jahren starb, nachdem eine deutsche Bombe ihre Londoner Wohnung traf. Obwohl ihr acht Romane umfassendes Werk zu Lebzeiten bei Publikum und Kritik beliebt war, geriet die Autorin bald vollkommen in Vergessenheit. Appius and Virginia ist ein Roman, der für mich fast die Intensität von Marlen Haushofers Die Wand erreicht, und der sich noch in anderer Hinsicht mit diesem Buch vergleichen lässt, denn auch hier lebt eine Frau von der Gesellschaft isoliert – wenn diese Isolation in Appius and Virginia auch frei gewählt ist. Virginia ist in ihren Vierzigern und alleinstehend, und sie hat sich vorgenommen, einen Orang-Utan aufzuziehen wie ihr eigenes Kind. Sie will ihm sprechen, lesen und denken beibringen, hat hehre Pläne mit ihm und wünscht sich außerdem, dass er sich später um sie kümmert. Es geht um nature vs. nurture, um menschliche Hybris, aber vor allem ist dieser Roman ein Porträt der Einsamkeit dieser beiden Wesen (ein Thema, das sich im Grunde durch alle heute vorgestellten Bücher zieht). G. E. Trevelyan erzählt fesselnd und berührend, wie sich dieses Experiment entwickelt, und die ganze Zeit ist klar: Das kann nicht gutgehen…
G.E. Trevelyan, Appius and Virginia – Abandoned Bookshop, 240 Seiten
Dankeschön für die interessanten Leseanregungen!
Das im September erscheinende Buch wird schonmal in meinen Regalen angemeldet 😉
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ich freue mich immer sehr, und danke an dieser stelle dafür, wenn der newsletter mich auf neues in ihrem blog hinweist und ich das dann genießen kann.
und ich finde es passend, dass sie in diese jury gewählt wurden.
herzlichst ann salandre
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Auch ich habe früher regelmäßig Rezensionen über verschiedene Bücher veröffentlich. Auch, wenn dies aufgrund von Zeitmangel mittlerweile nachgelassen hat, erinnere ich mich noch sehr gut, dass ich mich dabei nicht nur auf die Geschichte der Bücher bezogen habe. Ein ansprechendes Buch muss meiner Meinung nach auch schick und authentisch gebunden sein, damit es andere Personen zum Lesen verleitet.
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