Ein Bild aus blinden Flecken

Warum stellen Banken und Kreditkartenunternehmen so oft die Frage nach dem Geburtsnamen der Mutter? Weil ihn kaum noch jemand kennt, weil er nicht mehr vorkommt, weil er getilgt ist – und damit eine der besten Sicherheitsfragen.

Der Originaltitel von Rebecca Solnits Unziemliches Verhalten lautet wörtlich übersetzt „Erinnerungen an meine Nicht-Existenz“, denn es geht der Autorin um Formen der Auslöschung wie diese. Es geht ihr um den Raum, den Frauen in unserer Kultur nicht einnehmen, nicht einzunehmen haben, und es geht ihr um die Mechanismen, die dafür sorgen. Solnit führt zahlreiche Beispiele aus den unterschiedlichsten Bereichen unserer Kultur an, von der Marginalisierung bis zum Mord, die ein schockierendes, trauriges Gesamtbild ergeben. Ein Bild, an das wir so gewöhnt sind, dass wir ganze Bereiche gar nicht wahrnehmen, ein Bild aus blinden Flecken.

Dass in ihrer Kindheit in den USA der Sechzigerjahre alle wichtigen Positionen, egal wo, von Männern besetzt waren, schien Rebecca Solnit damals ganz normal. Auch dass alle Denkmäler in der Stadt Männer darstellten und kaum eine Straße nach einer Frau benannt war. Erst viel später stellte sich der einflussreichen Kulturhistorikerin, Journalistin und Schriftstellerin die Frage: Wo im Stadtbild sind die Frauen, die vergleichbar Wichtiges geschaffen haben? Denn es gibt und gab sie ja, die Erfinderinnen, Komponistinnen, Autorinnen, Malerinnen, Politikerinnen und so weiter. Warum wird an sie nicht erinnert, warum bekommen sie keinen Raum? 

Rebecca Solnit beschreibt in ihrem neuen Buch, das für mich zu einem der wichtigsten des Jahres zählt, sehr persönlich, tastend und oft poetisch, in einzelnen Anekdoten und großen Bögen, wie sie ihre eigene Stimme fand und zur Schrifstellerin wurde. Und dabei geht es nicht nur um das geeignete Genre und den passenden Stil, es geht in einem viel grundsätzlicheren, existenzielleren Sinn darum, die Stimme überhaupt zu erheben, sich zu behaupten, zu sich zu finden in einer Kultur, die eine lange Tradition darin hat, Frauen auszuschließen und zum Schweigen zu bringen. 

Sind Frauen Gegenstand eines Textes, ist interessant, was eigentlich erzählt wird. Solnit fasst zusammen, in wie vielen Mythen, Klassikern und Popsongs es bei Lichte besehen um nichts anderes geht als um Vergewaltigung – ohne dass das an Schule oder Uni jemals so benannt worden wäre. Gelehrt wird es anders, meist ist der Rahmen dann die große Liebe eines Mannes. Wie in der Überschrift „Seemann wollte Liebe“ eines Zeitungsartikels über die Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau (in ähnlicher Weise beinahe täglich auch in deutschen Zeitungen nachzulesen). Indem die entscheidenden Begriffe nicht fallen, wird unsichtbar gemacht, worum es eigentlich geht, und ganz nebenbei werden Täter zu Opfern stilisiert und Opfer zu den eigentlich Schuldigen erklärt, etwa weil sie „falsch“ gekleidet waren oder den „falschen“ Beruf hatten. 

Solnit stellt dieses Narrativ in eine lange abendländische Tradition. Bei Ovid verwandeln sich Nymphen und Göttinnen in andere Wesen, weil es zu gefährlich ist, eine Frau zu sein. Ihnen wird die Zunge herausgeschnitten wie Philomela, sie werden verfolgt und vergewaltigt wie Leda und viele andere, sie werden eingesperrt und verstümmelt. Die komplementäre Geschichte ist die von Frauen, die sich unterordnen:

„Manchmal werden die Frauen, die sich mit Haut und Haar verschlingen lassen, gepriesen; diejenigen, die auf ihre eigenen Wünsche oder Bedürfnisse bestehen, werden gerügt oder geschmäht, weil sie Raum einnehmen, Lärm machen. In diesem System werden Frauen bestraft, wenn sie sich nicht selbst mit Nichtexistenz bestrafen. Das System beruht auf Bestrafung.“

Sich selbst mit Nichtexistenz bestrafen, das tun auch die großen Titelheldinnen von Klassikern wie Anna Karenina, die sich vor den Zug wirft, Emma Bovary, die sich vergiftet, und Effi Briest, die mit 29 Jahren stirbt, nachdem sie alle Schuld am vorher Geschehenen auf sich genommen hat. Frauenschicksale, ersonnen von Leo Tolstoi, Gustave Flaubert und Theodor Fontane, geliebt von uns allen. Warum muss uns erst Rebecca Solnit auf die zugrundeliegenden Muster aufmerksam machen? Warum stören wir uns daran nicht, warum finden wir das normal?

Solnit geht es darum, „dass uns Frauen kaum je ein anderes Ende gezeigt wurde. In den Romanen, die wir gelesen, den Filmen, die wir gesehen haben, den Geschichten, die uns von Kindesbeinen an erzählt wurden, nehmen Frauen sehr oft ein schreckliches Ende.“ In der Literaturwissenschaft gibt es dicke Bücher über das Sujet der schönen Leiche. Bis heute kommen die wenigsten Fernsehkrimis ohne weibliche Leiche aus, und schon Edgar Allen Poe hielt den „Tod einer schönen Frau“ für „das poetischste Motiv, das es gibt“ – was er sich kaum aus der Perspektive der Frauen vorgestellt haben wird, wie Solnit anmerkt. 

All das sind keine Beobachtungen aus dem Elfenbeinturm – es ist hochpolitisch. Denn es geht um Gewalt an Frauen im wahren Leben sowie in den Geschichten, die in unserer Kultur erzählt werden – und beides ist unauflöslich miteinander verknüpft. An jedem dritten Tag wird in Deutschland eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet – ein unvorstellbares Ausmaß. Und doch ist Femizid in den Medien weder als Begriff, noch als Thema präsent. Weil es so akzeptiert wird. Weil aus der Sicht der Mörder berichtet wird, aus der Sicht der Männer, die schließlich nur Liebe wollten. Was fehlt ist die Sicht der Frauen, ihre Stimme, und an dieser Stelle führt Solnit alle ihre Fäden zusammen:

„Unsere Glaubwürdigkeit hängt nicht zuletzt davon ab, welches Bild von uns in der Gesellschaft vorherrscht, und es hat sich wieder und wieder gezeigt, dass eine Frau, mag sie objektiv gesehen auch noch so glaubwürdig und ihre Aussage durch Zeug*innen, Beweise und unser Wissen um hinlänglich dokumentierte Verhaltensmuster gestützt sein, bei all jenen, die Männer und ihre Privilegien schützen wollen, keinen Glauben finden wird. Im Patriarchat rechtfertigt die Definition der Frau per se schon ihre Ungleichbehandlung, und das betrifft auch ihre Glaubwürdigkeit.“

Unziemliches Verhalten gehört von Thema und Bedeutung in eine Reihe mit Mary Beards Frauen und Macht und Kate Mannes Down Girl, Die Logik der Misogynie, es ist durch die essayistisch-persönliche Herangehensweise jedoch leichter zugänglich. Eye-opener sind alle drei Bücher. 

Nicole Seifert

Rebecca Solnit
Unziemliches Verhalten
Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum
Hoffmann und Campe
270 Seiten
23 Euro

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

2 Kommentare zu „Ein Bild aus blinden Flecken

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