Schreibend Abschied nehmen

Barbara Honigmann und David Wagner, Philip Roth, Vivian Gornick und Annie Ernaux – all diesen Autor*innen war der Abschied von einem Elternteil Anlass, ein Buch über den Vater oder die Mutter zu schreiben. Abschied und Tod sind dabei nicht gleichzusetzen, denn oft beginnt das Abschiednehmen noch zu Lebzeiten, mit einer schweren Krankheit, oder wenn eine Demenz einen Menschen verändert und gemeinsame Erinnerungen schwinden lässt. Annie Ernaux’ Buch über ihren Vater, Der Platz, habe ich hier bereits besprochen, nun erscheint bei Suhrkamp Eine Frau, ihr ebenso schmales Buch über ihre Mutter, das mit deren Sterben beginnt.

Um der Endgültigkeit dieses Todes zu begegnen, war es, wie Ernaux ausführt, notwendig zu schreiben, denn auf diese Weise konnte sie „die demente Frau, die sie geworden ist, mit der starken, strahlenden Frau, die sie gewesen ist“ vereinen. Diesmal ist es keine Option, zu warten, bis dieser Tod Vergangenheit geworden ist wie andere auch, bis so viel Abstand gewonnen ist, dass Analysieren und Erinnern leichter geworden sind. Es geht nicht anders:

Im Moment kann ich ohnehin nichts anderes tun, als über sie zu schreiben.

Durch diese innere Notwendigkeit, die ungleich größere persönliche Betroffenheit unterscheidet sich Eine Frau von Vorgängern wie Der Platz oder Die Jahre, obwohl sich auch dieses Buch in Ernaux’ großes Projekt fügt, Aspekte und Personen ihres Lebens in einer Form „zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung“ darzustellen, der Beschreibung des Individuellen also immer die des sozialen Milieus an die Seite zu geben, um etwas Allgemeingültigeres zu schaffen.

Die Mutter der Autorin, die ganz im Sinne dieses Allgemeingültigen namenlos bleibt, nur „sie“ und „meine Mutter“ heißt, wird um die Jahrhundertwende in einfachste Verhältnisse hineingeboren. Ernaux beschreibt den Hunger in der Kindheit, die kurze Schulzeit, die Arbeit in der Fabrik, auf die das Mädchen stolz war, schien sie doch zivilisierter als die Arbeit auf dem Land und freier als das Dasein als Dienstmädchen. Auf die Hochzeit und das Leben als junge Ehefrau folgt das als Ladenbesitzerin und Mutter, immer noch am Rande der Armut, deren Gesten die Mutter sämtlich kannte und weitergab an ihre Tochter, die sie nur noch archiviert.

Dass Ernaux sich als Tochter diesmal nicht zurücknimmt, kommt dem Buch sehr zugute. Das Ich vergangener Jahre, das erlebt und interagiert, kommt genauso vor wie das schreibende Ich der Gegenwart, das sein Tun reflektiert. Es sind vor allem diese Stellen, an denen das Persönliche mit dem Allgemeingültigen eine höchst gelungene Symbiose eingeht:

Wieder redeten wir in diesem ganz bestimmten Ton miteinander, einer Mischung aus Genervtheit und ewigem Vorwurf, der immer zu Unrecht den Eindruck erweckte, wir würden streiten, ein Ton zwischen Mutter und Tochter, den ich in jeder Sprache erkennen würde.

Dass die Tochter erwachsen wird, gefällt der Mutter nicht. Die Frage nach den Freiheiten eines Mädchens hat sich in ihrer Welt nie gestellt. Auch weil die Tochter gebildeter ist und dadurch Kontakt zu anderen Gesellschaftsschichten bekommt, wird der Graben zwischen Mutter und Tochter größer. Manchmal steht der Mutter in Gestalt ihrer Tochter der Klassenfeind gegenüber. Als Annie auszieht, verändert sich das Verhältnis zum Besseren, ohne dass das größere Nähe bedeutete; als sie heiratet und Kinder bekommt, gibt es neue Gemeinsamkeiten.

Es ist die Geschichte einer Frau im zwanzigsten Jahrhundert, einer Frau in einer patriarchalen Gesellschaft, die keine andere Möglichkeit hat, als sich darüber zu definieren, ihrem Mann und ihren Kindern zu dienen. Dementsprechend reagiert sie gereizt, als die Tochter, bei der sie zwischenzeitlich lebt, eine Spülmaschine anschafft und ihr so Arbeit wegnimmt, sie ihrer Funktion beraubt. Was soll sie machen, wer ist sie, wenn niemand mehr ihre Dienste braucht? „Aus Angst, nicht um ihrer selbst willen geliebt zu werden, hoffte sie, für das geliebt zu werden, was sie uns gab“, schreibt Ernaux und legt damit den Finger auf einen wunden Punkt unzähliger Frauenbiografien, die – nicht nur im Arbeitermilieu – dazu erzogen wurden, ihren Selbstwert vor allem daraus zu beziehen, sich für andere aufzuopfern und auf Frauen herabzublicken, die es anders machten. Sei wie das Veilchen im Moose…

Immer wieder – und das ist eine weitere, besonders interessante Facette dieses Textes – geht es auf diesen 89 Seiten auch um den Schreibprozess selbst. Warum das Analysieren und Abstandnehmen diesmal nicht so funktioniert wie bei früheren Büchern, warum der Autorin beim Schreiben immer wieder ihre Gefühle dazwischenkommen, bringt Ernaux so auf den Punkt:

Ich versuche, die Wut, die überschwängliche Liebe und die Vorwürfe meiner Mutter nicht nur als individuelle Charakterzüge zu betrachten, sondern sie in ihrer Lebensgeschichte und ihrer gesellschaftlichen Stellung zu verorten. Diese Form des Schreibens, die mir in die Richtung der Wahrheit zu gehen scheint, hilft mir, aus der Einsamkeit und Dunkelheit der individuellen Erinnerung herauszutreten, in dem ich nach einer allgemeineren Bedeutung suche. Aber ich spüre, wie sich etwas in mir dagegen sträubt, etwas, das sich reine Gefühlsbilder meiner Mutter bewahren möchte, Wärme oder Tränen, ohne ihnen einen Sinn zu geben.

Es ist diese Ambivalenz, die Eine Frau für mich noch über Ernaux’ andere Bücher hinaus hebt, gerade weil ihr Plan hier nicht ganz aufgeht. Das Schreiben dieses Buches war eine existenzielle Notwendigkeit, und das kollidierte mit der nüchternen, distanzierten Herangehensweise, die Ernaux theoretisch bevorzugt. Genau dieses Spannungsverhältnis zwischen dem soziologischen Anspruch der Autorin und den Gefühlen der Tochter machen dieses Buch so besonders. Beides für sich ist interessant, beides zusammen ist großartig.

Nicole Seifert

Annie Ernaux
Eine Frau
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp Verlag 
88 Seiten
18 Euro

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

Ein Kommentar zu „Schreibend Abschied nehmen

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