Die Geschichte der Väter

Zwei Autorinnen erkunden schreibend die Geschichte ihrer Väter, versuchen sich nach deren Tod ein Bild von ihnen zu machen. So unterschiedlich diese beiden Männer und ihre Beziehungen zu ihren Töchtern sind, so unterschiedlich sind auch die Herangehensweisen der Autorinnen an ihre Texte.

Annie Ernaux, die in Frankreich schon lange verehrt wird, ist hierzulande erst kürzlich mit Die Jahre einem größeren Publikum bekannt geworden, einem Buch, mit dem sie ihr Leben in eine kollektive, „unpersönliche“ Erinnerung einzuschreiben versuchte. Nun veröffentlicht der Suhrkamp Verlag auch ihre früheren Bücher, darunter Der Platz, im französischen Original bereits 1983 erschienen.

Ich schreibe langsam. Bei dem Versuch, die bedeutsamen Etappen eines Lebens freizulegen, das Zusammenspiel aus Gegebenheiten und Entscheidungen, habe ich den Eindruck, dass mir die Einzigartigkeit meines Vaters mehr und mehr abhandenkommt. Die Skizze nimmt allen Platz ein, die Idee verselbständigt sich. Wenn ich hingegen die Erinnerungsbilder an mir vorbeiziehen lasse, sehe ich ihn, wie er war, sein Lachen, seinen Gang, wie er mich an der Hand zum Jahrmarkt führt, wo mir die Karussells Angst machen, und dann sind mir alle Anzeichen, dass er diese Lebenswelt mit anderen geteilt hat, gleichgültig. Jedes Mal versuche ich verzweifelt, mich aus der Falle des Individuellen zu befreien. (S. 37f)

Annie Ernaux möchte ihren Vater zu fassen bekommen, aber nicht in die „Falle des Individuellen“ gehen, weil sie an seiner Lebenslinie das Allgemeingültige zeigen will. Das geht auch deshalb auf, weil ihr Vater – anders als der von Barbara Honigmann – kein außergewöhnliches Leben geführt hat. Geboren um die Jahrhundertwende in der Normandie, versäumte er Schulunterricht, „weil die Äpfel aufgelesen werden mussten, das Heu eingebracht, das Stroh zu Ballen gebunden, weil gesät und geerntet werden musste.“ Vor dem Ersten Weltkrieg arbeitete er als Knecht, nach dem Wehrdienst wollte er nicht wieder in die Landwirtschaft, es blieb also nur die Fabrik. Nach einem Unfall beschließen er und seine Frau, einen Kredit aufzunehmen und einen kleinen Kramladen mit Kneipe zu kaufen. Sie wollen das Arbeiterleben hinter sich lassen, leben fortan aber lange in der Angst, „die Bestände aufessen“ zu müssen. Manchmal nimmt er zusätzliche Arbeit auf einer Baustelle an, um nicht in die Armut abzurutschen.

Mit beinahe ethnologischem Anspruch dokumentiert Ernaux, wie ihr Vater sein Brot schnitt, was er auf Fotos trägt, wie er guckt, und stellt all das in einen Zusammenhang. Sie beschreibt, wie die Eltern miteinander sprachen, und sie zitiert wiederkehrende Redewendungen, die deren Haltung verdeutlichen: Wir hatten alles, was man braucht. Andere waren unglücklicher als wir. Persönlich wird es erst, wenn Ernaux zu ergründen versucht, ab wann sie sich zu diesem Wir nicht mehr zugehörig fühlte, wann sich zwischen ihrem Vater und ihr die Distanz auftat, die ihre Beziehung prägte. Sie macht ihre Bildung dafür verantwortlich, ihre Lektüre, die Sprache, die sie zu sprechen begann und die ihrem Dialekt sprechenden Vater fremd blieb. Es ist eine Klassendistanz, ein Graben, der sich mit der Zeit immer weniger überwinden ließ.

Wo Ernaux’ Bücher literaturgewordene Soziologie sind, nähert sich Barbara Honigmann ihrem Vater auf persönlichere Weise. Dabei stellt auch sie sich als Tochter nicht in den Mittelpunkt, und auch sie versucht eine kritische Distanz einzunehmen. Das gelingt ihr um so besser, als es bereits das zweite Buch über ihren Vater ist nach dem 1991 erschienenen Eine Liebe aus nichts, in dem die Ich-Erzählerin zum Begräbnis des Vaters nach Weimar reiste. Lothar Müller schrieb am 11.2.2019 in der Süddeutschen Zeitung über Barbara Honigmann:

Sie schreibt Porträts, gelegentlich in Form von Briefen, meist aber in Form der autobiografischen Erzählung, und wie eine Malerin gibt sie sich selten mit einer Version des Porträts zufrieden. Ein schlichter Satz ihrer Poetikvorlesungen nennt dafür den Grund: „Auch nach ihrem Tod verändern sich die Menschen noch.“

Georg Honigmann, geboren 1903 in Wiesbaden als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten Juden, wächst nach dem frühen Tod der Mutter und dem Verlust seines älteren Bruders, der im Ersten Weltkrieg fiel, bei seiner Darmstädter Großmutter auf. Später besucht er die erst zehn Jahre zuvor gegründete Odenwaldschule, eine Zeit, von der er sein Leben lang schwärmt, lebt er dort doch in einer gemischten, kosmopolitischen Gesellschaft, die – gemäß Pindars Motto „Werde, der du bist“ – größtmögliche persönliche Entwicklungsfreiheit bietet. Er studiert, promoviert über Georg Büchner und wird Feuilletonredakteur der Vossischen Zeitung, dann Auslandskorrespondent in London, wo ihn seine spätere Frau Litzy, die Mutter der Autorin, an den Kommunismus heranführt. Sie ist es auch, die nach Kriegsende dafür sorgt, dass sie nach Deutschland zurückgehen, in die DDR, wo sie wichtige politische und kulturelle Funktionen übernehmen. Die Eltern lassen sich früh scheiden, anschließend verbringen Vater und Tochter alle Wochenenden miteinander. Das Buch beginnt damit, dass die vierzehnjährige Tochter den Vater nach der Trennung von seiner dritten Frau in einem tristen möblierten Zimmer außerhalb Berlins besucht. Viermal verlässt Georg mit einer Ehefrau auch ein Haus und einen Freundeskreis, lässt alles zurück und beginnt von vorn.

Er muss ein Mann mit Charme und Verführungskraft gewesen sein, dem es jedoch an innerer Stärke, an tiefen Überzeugungen mangelte, der genauso gut einer anderen Religion oder Ideologie hätte angehören können. Oft fühlte er sich zwischen den Stühlen – für die Engländer blieb er ein Deutscher, für die Deutschen ein Jude, für seine Genossen war er zu bürgerlich, für die richtigen Bürger zu bohèmehaft. Sein Leben lang betrachtete er sich als Linker, seine Haltung zum SED-Staat, dem seine Tochter sehr kritisch gegenüberstand, bereitet dieser große Schwierigkeiten.

Barbara Honigmann nähert sich ihrem Gegenstand mäandernd, immer wieder gelangt man an dieselben biografischen Stationen. Der Fundus dessen, was Georg seiner Tochter erzählt hat, ist begrenzt, ihre Gedanken, ergänzt durch eigene Erlebnisse und Gespräche mit der Mutter und anderen Exfrauen, kreisen ihr Zentrum ein, aber ganz zu greifen, wirklich zu verstehen ist dieser Vater für seine Tochter nicht.

Der Platz und Georg sind bewegende Lebensdokumente, die auch über die mitteleuropäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts viel zu erzählen haben. So unterschiedlich diese zwei Männer, ihre Leben und die Beziehungen zu ihren Töchtern sind, eins haben die beiden Vater-Tochter-Geschichten gemein: Momente der Verständigung, des Trostes, der Nähe gibt es selten bis gar nicht. Diese Texte sind Annäherungsversuche aus der Ferne, im Nachhinein, wo – vielleicht weil – im Leben etwas fehlte. Anders als bei Annie Ernaux gibt es bei Honigmann auch schöne Erinnerungen an Gespräche und gemeinsam Erlebtes, aber auch solche, die diesen störend in die Quere kommen (wie es aber anders bei Eltern-Kind-Beziehungen vielleicht kaum möglich ist). Es mag eine Frage der Perspektive sein, aber insofern sind es traurige Bücher, so interessant, aufschlussreich und lesenswert sie dabei sind.

Nicole Seifert

Annie Ernaux
Der Platz
Aus dem Französischen von Sonja Finck

Bibliothek Suhrkamp
94 Seiten
18 Euro

Barbara Honigmann
Georg
Carl Hanser Verlag

160 Seiten
18 Euro

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

Ein Kommentar zu „Die Geschichte der Väter

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