Aus der Stille geboren

Die Britin Rachel Cusk, Jahrgang 1967, hat bisher vierzehn Bücher veröffentlicht und dabei eine hochinteressante Entwicklung vollzogen vom klassischen Roman über die Autobiografie hin zu einer ganz eigenen Form bei den Romanen Outline, In Transit und Kudos. Die Trilogie ist nun abgeschlossen und liegt vollständig auf Deutsch vor.

Entscheidend für Cusks Entwicklung war das Jahr 2013, als sie den Titel Aftermath: On Marriage and Separation veröffentlichte. Dieses bisher nur auf Englisch erschienene, unverhohlen autobiografische Buch behandelt ein für die Autorin traumatisches Erlebnis: das Zerbrechen ihrer Ehe und die Situation, in der sie sich dadurch wiederfand. Es ist der schonungslos ehrliche Bericht einer Frau, die mit dem Scheitern ihrer Lebensziele konfrontiert ist und beschließt, kompromisslos von ihrer persönlichen „Nachkriegszeit“ zu erzählen. Das hatte für Cusk verheerende Folgen. Sie wurde beispiellos angefeindet, unter anderem für ihren Wunsch (nicht die Forderung, sondern den Wunsch), die Kinder zu behalten. In kürzester Zeit wurde sie zur „meistgehassten Schriftstellerin Englands“. Annabelle Hirsch schrieb darüber in der FAZ:

Und obwohl Cusk bereits zuvor die Erfahrung gemacht hatte, dass die Leute es nicht mögen, wenn man etwas schlechtschreibt, das vielen als heilig gilt – als sie 2001 in ihrem Memoir A Life’s Work über ihr Leid als junge Mutter berichtet hatte, waren die Meinungen ebenfalls mehr als gespalten -, traf die Ablehnung nach Aftermath sie härter als alles zuvor: Aftermath, so erklärte sie in einem Interview mit dem Guardian, „war mein kreativer Tod. Es war das Ende. Ich habe mich in die Stille vergraben.“

Aus dieser Stille entstand schließlich Outline, der erste Roman der von Eva Bonné ins Deutsche übersetzten Trilogie. Auch Cusks Protagonistin Faye ist still. Als sie nach Athen reist, wo sie einen Schreibkurs geben soll, lässt sie sich von Fremden deren Geschichten erzählen, zunächst im Flugzeug, dann während des Kurses und bei diversen Ausflügen. Sie selbst erzählt nicht. Zwar reagiert Faye und lässt auch mal etwas über sich durchblicken, aber es ist wenig, und einen größeren narrativen Zusammenhang gibt es nicht. All das Gehörte, all die einzelnen Szenen fließen nur in der Figur der Erzählerin zusammen. Gern wird in diesem Zusammenhang auf Karl Ove Knausgård verwiesen, es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zu dem norwegischen Autor diverser ziegelsteindicker Bände: Cusks Alter ego betreibt keine Nabelschau, sie erzählt eben nicht von sich, sie hört zu. Knausgårds radikale Hinwendung zur Autobiografie hat Cusk fasziniert, weil auch sie die Fiktion leid war und nach wahrhaftigeren Ausdrucksmöglichkeiten suchte, nach einem Weg, sinnhaft zu erzählen, ohne Schlüssigkeit vorzuspiegeln. Der Gedanke, dass Autobiografie die reinste und letztlich die einzig mögliche künstlerische Form ist, findet sich bei Knausgård, Cusk und mehreren anderen zeitgenössischen Autor*innen, allen voran Annie Ernaux.

Faye changiert zwischen Cusks autobiografischem Ich und einer rein fiktiven Figur. Vieles deckt sich (beide sind zum Zeitpunkt des Schreibens in den Vierzigern, Autorin und Mutter und frisch getrennt), anderes stimmt nicht überein (zum Beispiel das Geschlecht der Kinder). Hier tut sich ein weites, von der Literaturwissenschaft gut beackertes Feld auf: Wo endet Autobiografie, wo fängt Fiktion an? Dass man nicht erzählen kann, ohne bereits zu deuten, ist ein Allgemeinplatz, und Cusk ist sich dessen natürlich bewusst. Es ist genau der Punkt, an dem sie ansetzt. Durch ihre Erzählform überlässt sie es den Leser*innen, den in ruhigem Erzählfluss dahinmäandernden Einzelgeschichten einen Zusammenhang zu verleihen. Sie zwingt uns, genau hinzuhören, auf das Wie des Erzählens zu achten. Und ist das nicht sowieso viel interessanter, vermittelt sich so nicht das eigentlich Entscheidende?

In den nächsten beiden Romanen, In Transit und Kudos, ergreift Faye öfter selbst das Wort. Die Geschichten, die sie von Nachbarn, Bauarbeitern, Kolleginnen und Kollegen erzählt bekommt, haben es manchmal in sich und lassen sie über ihr eigenes Leben und das Leben an sich reflektieren. Immer wieder geht es dabei um Freundschaften, Beziehungen, um die Frage, was Menschen zusammenhält, was sie treibt, was sie einander sein können und was nicht. Ein anderes wiederkehrendes Thema ist die Frage, wie festgeschrieben das eigene Leben ist, wie stark andere darauf einwirken und was man sich selbst zuzuschreiben hat.

Die Vorstellung, das eigene Leben könnte etwas Festgeschriebenes sein, sei sehr verlockend, bis man merke, dass sie andere Menschen auf Romanfiguren reduziere, aus der moralischen Verantwortung entlasse und ihren zerstörerischen Einfluss verschleiere. Und doch schleiche sich die Illusion von Bedeutung immer wieder ein, egal, wie wachsam man bleibe. Es ist wie mit unserer Kindheit, sagte ich, die wir irrtümlicherweise wie einen erklärenden Begleittext behandeln und nicht wie eine prägende Ohnmachtserfahrung.                     (In Transit, Seite 184)

Ohnmacht und Einfluss, Verantwortung und Bedeutung – ohne diese Kategorien geht es nicht, wenn man sich über das eigene Leben klarzuwerden versucht, soweit gilt es unabhängig vom Geschlecht. Cusks Trilogie steht jedoch auch in einer Tradition weiblichen Schreibens, denn bei ihr geht es (wie auch bei Annie Ernaux) explizit darum, die eigene Stimme zu finden, das Wort zu ergreifen und sich Gehör zu verschaffen, sich den Mund nicht verbieten zu lassen und die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zurückzuerobern. Es ist ein Thema, das in der Literatur von Frauen von Bedeutung ist, seit es sie gibt, eine alte Tradition also, aber immer noch relevant, vielleicht relevanter denn je.

Nicole Seifert

Rachel Cusk
Deutsch von Eva Bonné
Suhrkamp Verlag

Outline
Roman
235 Seiten
19,95 Euro

In Transit
Roman
237 Seiten
11 Euro

Kudos
Roman
215 Seiten
20 Euro

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

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