Seelische Mondlandschaften

Ingrid und Jan führen seit fast fünfundzwanzig Jahren eine stabile Ehe und haben zwei beinahe erwachsene Söhne; sie arbeitet als Lehrerin, er in einem Osloer Ministerium. Aber für Ingrid ist der Sinn dessen, was sie sich da aufgebaut haben, auf der Strecke geblieben. Ihr Leben macht sie nicht nur nicht mehr glücklich, sie erträgt all die Wiederholungen des ewig Gleichen kaum mehr, vermisst ihren früheren Enthusiasmus und sieht „überall nur das Kranke“. Es sind, auch wenn es im Roman nicht explizit benannt wird, Anzeichen einer ernsthaften Depression – und das bereits, bevor Ingrid erfährt, dass Jan eine andere Frau kennengelernt hat.

Diese andere Frau ist Hanne, die zweite der drei Perspektiven, aus der der Roman erzählt wird. Hanne ist Mitte dreißig, und obwohl sie die biologische Uhr ticken hört, kann sie sich nicht überwinden, sesshaft zu werden, wie es alle ihre Freunde tun. Die Langeweile, die sie in deren Leben sieht, erscheint ihr unerträglich, sie sucht die Abwechslung, bestenfalls das Drama. Ihre One-Night-Stands kann sie nicht mehr zählen, ihre stets kurzen Beziehungen gerade noch, aber sie bleibt bei keinem Mann, nicht mal in ein und derselben Wohnung hält sie es lange aus, ständig zieht sie um, weil ihr irgendwas nicht passt: der Schimmelgeruch im Treppenhaus, das Kindergeschrei in der Nebenwohnung, der Blick aus dem Fenster. Als sie Jan kennenlernt, stellt sich die Frage, ob sie aus diesem Muster ausbrechen kann.

Jan, als Ingrids Mann und Hannes Liebhaber die dritte Erzählperspektive, erwischt die Midlifecrisis komplett unreflektiert, hat er doch in seiner Ehe eigentlich nie etwas vermisst. Aber was ihm da mit Hanne passiert, nach der Firmenweihnachtsfeier, auf der er auf der Bühne Luftgitarre gespielt und „Come on baby light my fire“ ins Mikrofon gegrölt hat, das hat er noch nie erlebt. Allein ihre unaufgeräumt kleine Wohnung mitten in der Stadt, mal wieder Gras rauchen, der Sex! Ein oft (und hier besonders gut) erzähltes Klischee, das Jan als einmaliges, unglaubliches Erlebnis wahrnimmt. Jan kann nicht von Hanne lassen, will sich jedoch auf keinen Fall von Ingrid und den ausgewachsenen Söhnen trennen. Unfähig, die notwendige Entscheidung zu treffen, macht er sich und allen Beteiligten das Leben zur Hölle.

Das liest sich zügig und ist unterhaltsam und komisch, weil die 1965 in Trondheim geborene Nina Lykke eine sehr genaue Beobachterin ist und Lebensumstände und Haltungen ihrer Figuren treffsicher beschreibt. Dennoch mangelt es diesem Roman an etwas Entscheidendem, das nötig wäre, um ihn richtig mögen zu können: Jan, Ingrid und Hanne fehlt die Tiefendimension, sie sind letztlich Karikaturen. Das Innenleben aller drei Charaktere ist von einer Ich-Bezogenheit und Oberflächlichkeit, von einer so deprimierenden Facettenlosigkeit und Ödnis, dass es kaum noch möglich ist, mit ihnen zu empfinden. Nina Lykke seziert mit der Genauigkeit einer Chirurgin, aber auch mit dem entsprechenden Mangel an Empathie. Um es mit Annette Humpe zu sagen: „Da bleib ich kühl. Kein Gefühl.“

Nicole Seifert

Nina Lykke
Aufruhr in mittleren Jahren
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Sylvia Kall
Nagel & Kimche

270 Seiten
20 Euro

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

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