Dem Vergessen entrissen: Gabriele Reuter – der weibliche Fontane?

Im Herbst 1895 erschienen zwei Romane, deren Protagonistinnen letztlich an der Unmenschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zugrundegehen. Die eine ist in ihrer arrangierten Ehe einsam und unglücklich und beginnt eine Affäre. Als diese Jahre später bekannt wird, fordert ihr wesentlich älterer Ehemann den ehemaligen Liebhaber zum Duell und lässt sich scheiden. Auch von ihren Eltern wird die junge Frau verstoßen. Erst lange darauf – sie ist inzwischen todkrank – nehmen sie sie wieder auf. Die andere, ebenfalls eine höhere Tochter im Wilhelminischen Deutschland, versucht sich auf der ihr vorgezeichneten Lebensbahn – Jungfrau, Gattin und Mutter – zurechtzufinden. Sie hat zutiefst verinnerlicht, was von ihr erwartet wird, und will alles richtig machen; die Steine, die ihr in den Weg gelegt werden, machen es ihr jedoch zunehmend unmöglich, auf diesem erwünschten Weg zu bleiben. Sie wird immer unglücklicher mit den wenigen Möglichkeiten, die ihr als Frau zu dieser Zeit im Leben offenstehen. Auch sie fällt schließlich durch das Raster des gesellschaftlich Akzeptierten und endet krank und allein. 

Der erste Roman ist Effi Briest von Theodor Fontane, der andere Aus guter Familie von Gabriele Reuter. Beide Romane waren große Verkaufserfolge, wurden bereits im Jahr ihres Erscheinens mehrfach nachgedruckt und erlebten in den folgenden Jahren weitere Auflagen. Gabriele Reuter war damals sechsunddreißig Jahre alt und hatte bereits drei Romane veröffentlicht, Theodor Fontane war sechsundsechzig und als Schriftsteller verschiedenster Genres etabliert. Beide waren beim Publikum beliebt und fanden auch bei der Kritik Beachtung und Anerkennung. Aus guter Familie wurde zu einem Identifikationsbuch einer ganzen Generation und die Autorin über Nacht berühmt. Thomas Mann pries die sechzehn Jahre ältere Gabriele Reuter 1904 als „die souveränste Frau, die heute in Deutschland lebt“ (ein allerdings etwas fragwürdiges Kompliment), und Sigmund Freud bescheinigte dem Roman „die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung der Neurosen“. Trotz dieses umfassenden Erfolgs geriet Gabriele Reuter seit den 1920er Jahren ziemlich vollständig in Vergessenheit. Eine Gesamtausgabe ihrer Werke hat es nie gegeben, und auch in der Literaturgeschichtsschreibung kam sie nicht vor. Theodor Fontanes Werk dagegen gibt es inzwischen in mehreren Gesamtausgaben, seine Balladen und Romane sind Schullektüre, seine Werke sind fraglos Bestandteil des Kanons und waren zu keiner Zeit vergessen. Warum ist es mit den Romanen so unterschiedlich weitergegangen? Worin unterscheiden sie sich, und was hat das damit zu tun, welcher Text vergessen wurde und welcher zum Klassiker?

Aus guter Familie wurde in den 2000ern durch die Literaturwissenschaft wiederentdeckt, und es wurde viel geforscht, um diese Fragen zu beantworten. „Wiederentdeckt“ heißt in diesem Fall allerdings: Der Roman ist nun einem kleinen Fachpublikum bekannt. Gehört man nicht zu diesem Kreis, wird man nicht unbedingt von dem Buch gehört haben. Aber immerhin: Es ist wieder lieferbar, man kann es in Buchhandlung oder Bibliothek bestellen, und das habe ich getan, weil mich die Tatsache, dass Aus guter Familie damals derart erfolgreich war und so hochgelobt wurde, neugierig gemacht hat. Ich wollte wissen, ob der Roman mit Effi Briest vergleichbar ist, und wie gut er sich heute liest. 

Gefälligkeit versus Drastik

Es ist ein Bildungsroman, der mit dem Tag von Agathes Konfirmation beginnt und zwanzig Jahre später damit endet, dass sie den Verstand verliert. Dazwischen wird erzählt, wie Agathe sich zunächst unglücklich verliebt, wie unmöglich es einem Mädchen ihrer Gesellschaftsschicht gemacht wurde, diese Gefühle zu äußern, wie sie später einen Antrag erhält, es jedoch nicht zur Heirat kommt, weil ihr Bruder ihre Mitgift verspielt hat. Viele Möglichkeiten, ihr Leben sinnvoll zu füllen, stehen Agathe danach nicht mehr zur Verfügung. Sie probiert gewissermaßen an, was passen könnte, beginnt aber langsam zu resignieren und wird schließlich in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Ihr sehr nachvollziehbar geschildertes Schicksal wirkt vor allem deshalb beunruhigend, weil Agathes Sozialisationsbedingungen zunächst sehr günstig scheinen und ihre Bereitschaft zur Anpassung hoch ist. Gerade diese Bereitschaft, die von bürgerlichen Frauen ihrer Zeit auch gefordert wurde, ist es jedoch, die sie in die Krankheit treibt.

Gabriele Reuters Beschreibungen sind schonungslos, manchmal drastisch, insbesondere ihre Milieuschilderungen sind eher dem Naturalismus als dem Realismus verpflichtet. Zum Schmunzeln gibt es bei ihr, anders als bei Theodor Fontane, kaum etwas, das Geschilderte ist zu ernst, oft auch bitter. Ein weiterer Unterschied: Reuter bietet für die dargestellten Probleme keine Lösung an, erzählt ohne versöhnlichen Ton. All das macht die Lektüre zu einer härteren als Effi Briest, die am Ende mit ihrem Schicksal im Reinen ist und alle Schuld am Geschehenen auf sich nimmt. Das letzte Wort hat bei Fontane der alte Briest, der dem Ganzen etwas geradezu Märchenhaftes, Gemütliches verleiht – irgendwie scheint am Schluss alles seine Richtigkeit zu haben. Bei Reuter dagegen gibt es kein Ende, das einen beruhigt einschlafen ließe. Dass sowohl Effi, als auch Agathe den gesellschaftlichen Umständen ihr Lebensglück oder sogar ihr Leben opfern, wirkt bei Fontane, als hätte es letztlich seine Ordnung, bei Reuter ist es verstörend. Fontane erzählt neutraler und gefälliger, wo Reuters Roman auf Ungerechtigkeiten hinweist, aufwühlt und auf alles Beruhigende verzichtet. 

Die Literaturwissenschaftlerinnen Renate von Heydebrand und Simone Winko haben untersucht, wie die beiden Romane bei Erscheinen besprochen wurden, und weisen darauf hin, dass Effi Briest die Themen Konvenienzehe und Ehebruch als Problem beider Geschlechter schildert, während sich Aus guter Familie ganz auf Agathe konzentriert. Sie ist es, die unter den gesellschaftlichen Verhaltensnormen leidet, während die Männer von den eingeschränkten Freiheiten der Frauen profitieren. Agathe lehnt sich auf – gegen die den Frauen nicht zugestandene Sexualität, gegen den Standesdünkel, das geheuchelte Christentum und den politischen Konservatismus, gegen die selbstverständliche Bevorzugung des Sohnes und Bruders und generell gegen die Unmündigkeit der Frauen in der Familie, die sich dem Egoismus des Vaters opfern müssen. Aber Agathes Auflehnung bleibt kraftlos, und zwar, weil sie die Werte, die mit diesen Missständen verbunden sind, so sehr verinnerlicht hat. Fontane fasst das Thema allgemeiner und erzählt auch, inwiefern die Männer den gesellschaftlichen Zuständen unterworfen sind, während es bei Reuter keinen Zweifel daran gibt, wer auf wessen Kosten lebt. 

„Dichterin der Frau“

Aber ist das der Grund dafür, dass der Roman ab dem ersten Viertel des zwanzigstens Jahrhunderts nicht mehr gedruckt, gelesen und gelehrt wurde? Der amerikanische Forscher Richard L. Johnson sieht das so. Er erklärt das Vergessensein von Gabriele Reuter damit, dass sie als »Dichterin der Frau« gelesen worden sei, die meisten Kritiker und Verleger aber an der Darstellung männlicher Erfahrung mehr interessiert seien als an weiblicher. Das lässt sich natürlich schwer beweisen, klar ist aber, dass der Roman allein aufgrund seines Themas der Sparte „Frauenliteratur“ zugeordnet wurde, und die wird bekanntermaßen nicht als ernsthafte Konkurrenz zur „hohen Literatur“ betrachtet. Der Moment, in dem ein Buch der sogenannten Frauenliteratur zugewiesen wird, ist der Moment, wo es nicht mehr bei den Großen mitspielt, ab diesem Augenblick ist es mit der ernsthaften literaturkritischen Rezeption im Grunde vorbei. Winko und Heydebrand äußern die These, dass es männliches Vorurteil war, das Gabriele Reuter und vielen anderen Autorinnen den Eintritt ins Pantheon des Bleibenden verwehrte und weisen dies anhand der zeitgenössischen Kritiken von Effi Briest und Aus guter Familie nach. 

Nach Erscheinen wurden beide Romane in angesehenen Tageszeitungen, in Rundschau-Zeitschriften, sowie in speziellen Zeitschriften für Literaturkritik besprochen, Reuter außerdem in Organen für die Frau und aus der Frauenbewegung. Fontane wie Reuter wurden von Kritiker*innen beiderlei Geschlechts besprochen, aber überwiegend von Männern, schon weil diese das Berufsbild dominierten, und beide wurden von beiden Seiten sowohl gelobt, als auch getadelt. Auf besondere Weise abgewertet, gar als Frau, wurde Gabriele Reuter in den Besprechungen von Aus guter Familie nicht. Allerdings ergibt sich eine „deutliche Benachteiligung durch die Platzierung und den Umfang der Rezensionen: Aus guter Familie wird weit häufiger als Effi Briest in Sammelbesprechungen abgehandelt, und das noch dazu im Gehege der Frauenliteratur; auch sind die meisten Kritiken von Reuters Roman kürzer.“ Weniger Raum, schlechtere Platzierung und die Markierung als ‚von einer Frau, über Frauen, für Frauen’ machen im Falle von Gabriele Reuter die Marginalisierung aus. Genau das also, was sich auch über hundert Jahre später bei der Besprechung von Büchern von Autorinnen noch nachweisen lässt, wie die Rostocker Studie #frauenzählen gezeigt hat. 

Missverstandene Innovation

Und wie fielen die Besprechungen inhaltlich aus, wie wurden die beiden Romane von der Literaturkritik ästhetisch beurteilt? Effi Briest wie Aus guter Familie wurden von den zeitgenössischen Rezensent*innen als Gesellschaftskritik gelesen, deren Kunstanspruch auch nicht bestritten wurde. Victor Klemperer erkannte 1908 in einer größeren Rückschau auf Reuters frühe Romane die anklagende sowie die dokumentarische Dimension von Aus guter Familie und verstand das Werk zugleich als »ergreifendste Dichtung«. Aber weder Klemperer noch andere Kritiker benannten das Innovative an Reuters Roman, und das, obwohl Innovation in der Literaturkritik und -geschichte ein etabliertes Kriterium ist. Reuters entscheidender Bruch mit literarischen Konventionen bestand im schonungslosen Aufdecken sexueller Nöte und Zwänge der Frau, und in der Thematisierung verborgenen und offenen sexuellen Missbrauchs von Frauen durch Männer. Reuter selbst berichtete, dass ausgerechnet ihre Naturalistenfreunde diese Schilderungen unter »Zweideutigkeiten und Obszönitäten« verbuchten, sowie als »Enthüllung von Sexualitäten«. Heute wertet die Literaturwissenschaft Reuters Tabubruch einhellig als Innovation innerhalb des Genres des gesellschaftskritischen Romans. Damals wurde dieses Novum nicht mal als solches thematisiert. 

Trotz seiner literarischen Qualitäten, und obwohl Reuters Romane bis etwa 1910 mit großer Zustimmung gelesen wurden, kam es nie zu einer Edition gesammelter Werke. Schon im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts flaute ihr Ruhm ab, während Fontane immer im Gespräch blieb und zu seinem 200. Geburtstag im vorletzten Jahr ausgiebig gefeiert wurde. Alle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass der Hauptgrund für diesen Unterschied im Sujet ihres Romans liegt. Denn das Thema erlaubte es, Aus guter Familie in die Schublade „Frauenliteratur“ zu stecken – eine Einordnung, die eine gründliche, perspektivenreiche Lektüre ganz offensichtlich verhindert. Die eingeschränkten Erwartungen, die professionelle Leser*innen an Literatur von Frauen herantrugen, funktionierten als Wahrnehmungsfilter und als sich selbst erfüllende Prophezeiung. Was im Falle Reuter passierte – was schon passiert, seit Frauen schreiben und veröffentlichen –, ist die Ausgliederung bestimmter Literatur aus dem Kanon und der Literaturgeschichtsschreibung qua Thema: spezifisch weibliche Lebenswelten werden als Nischenthema behandelt, das auch nur Frauen interessiert und keine allgemeine Relevanz hat. Ein Großteil sogenannter ‚Frauenliteratur’ wird, so Heyebrand und Winko, in ein Ghetto eingeschlossen und qua Thema mit dem Etikett trivial belegt. So wird dauerhafte Kanonisierung verhindert, deshalb wurden bis ins 20. Jahrhundert hinein nur ganz wenige Autorinnen in der Reihe der männlichen Tradition wahrgenommen. Gabriele Reuter ist ein Beispiel dafür, was uns dadurch verlorengegangen ist, und das ist nicht zuletzt der weibliche Blick auf die Verhältnisse.

Nicole Seifert

Literatur:

Gabriele Reuter, Aus guter Familie, Leidensgeschichte eines Mädchens. Hg. von Karl-Maria Guth. Books on Demand, Hofenberg. Berlin 2016.

Renate von Heydebrand / Simone Winko, „Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische Beobachtungen und systematische Überlegungen“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 19/2, 2018.

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Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

8 Kommentare zu „Dem Vergessen entrissen: Gabriele Reuter – der weibliche Fontane?

  1. Effi Briest haben wir damals auf dem Gymnasium in der Oberstufe gelesen und ich fand es schon damals ein überaus faszinierendes und spannendes Buch. „Aus guter Familie“ kannte ich bis zu deinem Beitrag hier leider noch nicht. Ich werde es mir aber definitiv auf meine Leseliste für dieses Jahr setzen.

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  2. Ja, Theodor Fontane ist sehr bekannt und bei mir noch aus der Schulzeit mit seinen „Irrungen, Wirrungen“ sehr präsent. Von Gabriele Reuter habe ich noch nie gehört und freue mich auf diese Entdeckung sehr. Vielen Dank für diese Empfehlung. Schade, dass solche Bücher in Vergessenheit geraten…

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  3. Ich kannte „Aus guter Familie“ und auch den Artikel über Kanon und Geschlechterdifferenz nur dank eines Seminars über Gesellschaft und Gemeinschaft im 19. Jahrhundert (in dem Fall Geschichtswissenschaft und nicht Literaturwissenschaft). Ich hatte auch versucht in meinem Umfeld (darunter auch Lehramtsstudierende in Deutsch) ein wenig das Buch bekannter zu machen. Mich hatte es bei Fontane schon in der Schule gestört, dass der Alte Briest das letzte Wort hatte. Das hat schon etwas zu apologetisches imho.

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