Kurz und knapp: Drei Höhepunkte aus dem Herbst

Eine Nobelpreisträgerin, eine Wiederentdeckung und eine der interessantesten Autorinnen der Gegenwart drei Lese-Highlights aus den letzten Wochen

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Da gewinnt schon mal eine Autorin den Nobelpreis für Literatur – als 15. Frau auf 100 Männer – und dann wird kaum über sie gesprochen, weil parallel eine Debatte um den zweiten Literaturnobelpreisträger tobt, die alles in den Schatten stellt. Da ich noch nichts von Olga Tokarczuk gelesen hatte, konnte ich bisher leider auch nicht dagegenhalten. Aber ich war neugierig, nachdem es in der ZEIT hieß, dass ihr Werk „nuanciert, mit sprachlicher Fülle und poetischem Reichtum von der Unmöglichkeit einer Heimat erzählt. Von der Vergänglichkeit und der Obdachlosigkeit des Lebens.“

Begonnen habe ich mit den Erzählungen, die unter dem Titel Spiel auf vielen Trommeln 2006 bei Matthes & Seitz erschienen sind. Kurz zuvor hatte Tokarczuk für ein Jahr als Stipendiatin des DAAD in Berlin gelebt und dort im Künstlerhaus Bethanien am Mariannenplatz gewohnt, mit Blick auf eine Wagenburg, deren Bewohner nachts trommelnd am Lagerfeuer saßen. In der Titelgeschichte schlagen eben diese Trommeln den Puls des vielstimmigen Lebens, der zugleich Rhythmus der Auflösung ist, denn die Erzählerin, die selbst zur Trommlerin wird, löst sich von ihrem eigenen Leben und geht in wechselnden anderen Identitäten auf.

Das Spiel mit Identitäten durchzieht sämtliche Erzählungen dieses Bandes, in denen Reales und Surreales genauso wenig voneinander zu trennen sind wie die Reiche der Lebenden und der Toten. Wie in der ersten Erzählung, „Das Subjekt“, in der der Schriftsteller Samborski sich plötzlich seinem Alter Ego gegenüber sieht. Es sitzt an seinem Schreibtisch, führt seine Notizen weiter und diskutiert im Kaffeehaus mit jungen Menschen über seine Literatur, während der Erzähler mehr und mehr zu verschwinden scheint. Oder in der Erzählung „Die Glyzinie“, in der Mutter und Tochter denselben Mann lieben. Er ist nicht mehr am Leben, aber für die beiden ist er nach wie vor äußerst präsent.

Wer verschwindet, wird in diesen Erzählungen immer zugleich neu geschaffen, zieht von einem Leben zum anderen, geht in etwas Neuem auf. Das ist manchmal flirrend und fließend, dabei aber immer auch: konkret, intensiv, sehr besonders und faszinierend. Bin sehr gespannt auf mehr von Olga Tokarczuk und werde mir als nächstes Unrast vornehmen.

Olga Tokarczuk
Spiel auf vielen Trommeln
Erzählungen
Aus dem Polnischen von Esther Kinky
Matthes & Seitz Berlin
144 Seiten
14,80 Euro

 

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Ich könnte kaum eine andere Autorin nennen, deren Bücher mir so frisch und zeitgemäß vorkommen wie die von Ali Smith, das ging mir auch mit Herbst wieder so. Das liegt sicher zum einen an Ali Smiths Figuren und Figurenkonstellationen, die immer originell sind. Zum anderen hat es mit den Themen zu tun – der Roman spielt kurz nach dem Brexit-Votum, in einer geteilten Gesellschaft, die kaum noch ins Gespräch findet. Was in dieser Gegenwart falsch läuft, was absurd ist oder einfach komisch, das bringt die Protagonistin Elisabeth Demand immer wieder auf den Punkt.

Elisabeth ist Dozentin für Kunstgeschichte, ihre Abschlussarbeit wollte sie damals über Pauline Boty schreiben, die einzige britische Pop-Art-Künstlerin. Ihr Professor war jedoch dagegen, schließlich gebe es kaum Material über sie, und ist die denn wirklich relevant, eine Frau …? Elisabeth suchte sich einen anderen Betreuer und schrieb trotzdem über Pauline Boty, und was man in Herbst über sie erfährt, macht sehr neugierig darauf, sich näher mit dieser vergessenen Künstlerin zu befassen.

Außerdem charakteristisch für Ali Smiths Romane: Ihre Lust an Sprachspielen, die immer mehr sind als Spielerei (Hochachtung vor der Übersetzung von Silvia Morawetz!), und die literarischen Anspielungen, insbesondere auf Shakespeare, hier aber auch auf Dickens und Aldous Huxleys Schöne neue Welt. Anspielungen, die Spaß machen, wenn man sie erkennt, wenn nicht, ist das nicht schlimm, denn es geht auch noch um so handfeste Dinge wie eine Mutter-Tochter-Beziehung und um Elisabeths Freundschaft mit Daniel Gluck, ihrem Nachbarn, als sie noch ein Kind war. Jetzt liegt er im Sterben, mit 101 Jahren, und das ist richtig so und eine sehr friedliche Angelegenheit, zu der einige nahe, schöne Momente gehören. Wie die besondere Beziehung der beiden beschrieben wird und Daniels langsames Übergehen von einer Welt in die andere, das hat mir sehr, sehr gut gefallen, wie dieser ganze Roman.

Ali Smith
Herbst
Roman
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Luchterhand Verlag
272 Seiten
22 Euro

 

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In England wird gerade die Autorin Tove Ditlevsen (1917-1976)  wiederentdeckt, die in ihrer Heimat Dänemark zu den bekanntesten Schriftstellerinnen zählt. Ihre dreiteilige Autobiografie, im Original zwischen 1967 und 1971 erschienen, jetzt vom britischen Verlag Penguin neu ins Englische übersetzt, gliedert sich in die Bände Childhood, Youth und Dependency.

1917 in Vesterbro, einem Arbeiterviertel Kopenhagens geboren, wuchs Tove Ditlevsen in Armut auf, und nahm, da ihr Vater immer wieder arbeitslos war, nach ihrer kurzen Schulzeit ohne weitere Ausbildung jeden Job an, den sie in den schwierigen Dreißigerjahren kriegen konnte. Ihr dringender Wunsch, oder vielmehr die innere Notwendigkeit, Schriftstellerin zu werden, schien unter diesen Umständen fast unmöglich in die Tat umzusetzen, zumal es für Mädchen in ihrer Umgebung genau einen Weg gab: zusehen, dass man einen Mann findet, der einen versorgt, und dabei auf keinen Fall vorzeitig schwanger werden.

Wie sie es dennoch schaffte, bereits mit Anfang zwanzig eine veröffentlichte, bekannte Dichterin zu sein, erzählen diese drei Bände. Mit unglaublicher Unmittelbarkeit und einer vollkommen uneitlen Ehrlichkeit, die erst gar nicht versucht, etwas zu rechtfertigen oder zu beschönigen, erzählt Ditlevsen ihre eigene coming-of-age-Geschichte, erzählt von ihren frühen Ehen und deren Scheitern, vom Schreiben, von den Geburten ihrer Kinder und der Medikamentensucht, die sie beinahe das Leben kostete. John Self schrieb im New Statesman: „To get it out of the way: they are the best books I have read this year. These very slim volumes slip in like a stiletto and do their work once inside.“

Tove Ditlevsen
Childhood / Youth / Dependency
Translated by Tiina Nunnally and Michael Favala Goldman
Penguin UK
100 / 124 / 144 Seiten
ca. 10-12 Euro pro Buch

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

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