Es geht weiter mit rororo Entdeckungen

Über eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern in den 1920er Jahren, über eine junge Hexe, die während des Ersten Weltkriegs auf einer Insel in der Themse lebt, und über eine Frau, die in den 1980er Jahren mit ihrem Anwaltsgatten und ihren Kindern in der New Yorker Park Avenue ein Vorzeigeleben führt, bis sie sich in einen anderen Mann verliebt. Die drei neuen Bände der von mir und Magda Birkmann herausgegebenen Reihe rororo Entdeckungen, in der wir in Vergessenheit geratene Autorinnen neu herausbringen, stammen von Liesbet Dill, Stella Benson und Laurie Colwin.

Unsere deutschsprachige Autorin in diesem Programm ist Liesbet Dill, 1877 in Dudweiler an der Saar geboren und 1962 in Wiesbaden gestorben, eine ungemein produktive Schriftstellerin, zu deren wichtigsten Themen das Aufbegehren der Frau gegen ihre vorgesehene gesellschaftliche Rolle gehörte. Sie selbst ging in ihrem Leben ungewöhnliche Wege – dazu schreibt Magda Birkmann in ihrem Nachwort mehr. Mittelpunkt von Tagebuch einer Mutter, erstmals erschienen 1943 in Berlin, ist Oliva Nordeck, die nach dem Kriegstod ihres Mannes allein mit ihren vier kleinen Kindern dasteht. Um über die Runden zu kommen, zieht sie mit ihren Töchtern und Söhnen von der Stadt aufs Land, in ein kleines Haus, das es ihr angetan hat, und versucht, Geld zu verdienen, indem sie ein Zimmer vermietet und kleine Texte an Zeitungen schickt. Beides gelingt mal besser, mal schlechter, letzteres wird aber mit der Zeit zu einem Beruf mit stetem kleinem Einkommen. Währenddessen wachsen die Kinder heran, vieles läuft anders als erhofft, und diese Schilderungen des Elternseins, der phasenweisen Entfremdung wie der unverhofften Nähe haben mir besonders gut gefallen. Ein Roman, der in der Schilderung des Familienlebens so warmherzig wie realistisch ist und in seinen Dialogen und Figuren so echt und unterhaltsam, dass sich noch Mütter von heute darin wiedererkennen können, zumal schreibende.

Die Skizzen sind fertig. Die Frühlingnovelle ist mir endlich auch gelungen. Der Generalanzeiger will sie bringen. „Aber schreib nur nicht wieder deinen Namen darunter!“, sagt Dieter. „Sonst ziehen sie mich in der Klasse damit auf und lesen mir Stellen daraus vor.“
Ich schreibe jetzt unter dem Pseudonym „Stella Wagenried“. Ich weiß, dass meine kleinen Skizzen Spreu sind, die der Wind verweht. Aber ich kann ja nur nachts schreiben oder zwischen zwei aufzuwärmenden Mittagessen, denn die Kinder kommen jetzt zu ganz verschiedenen Zeiten heim. […] Ich dichte vormittags, wenn ich Zimmer aufräume und koche, aber wenn ich es dann niederschreiben will, ist mein Kopf leer. Es verträgt sich  nicht miteinander: Wirtschaft und Poesie.

Das Leben einer anderen Mutter auf einem anderen Kontinent entscheidende Jahrzehnte später erzählt Laurie Colwin, 1944 in Manhattan geboren, wo sie 1992 mit nur achtundvierzig Jahren starb. Familienglück erschien unter dem Titel Family Happiness erstmals 1982 in New York, Sabine Längsfeld hat den Roman für rororo Entdeckungen jetzt ins Deutsche übersetzt. Colwins Protagonistin Polly lebt im Schoße einer wohlhabenden Großfamilie in New York, ihre Kinder sind aus dem Gröbsten raus, sie hat einen interessanten Teilzeitjob und kommt bestens mit ihrem Ehemann aus.
Als sie sich in Lincoln verliebt, einen Maler aus dem weiteren Bekanntenkreis, versteht sie die Welt nicht mehr. Nie hätte sie gedacht, dass aus ihr eine Frau werden könnte, die ihren Mann betrügt. Aber das tut sie, regelmäßig und gerne – und mit sehr schlechtem Gewissen. Wenn man genau hinsieht, erzählt Laurie Colwin in Familienglück eine Variation des Anna-Karenina-Motivs. Polly hat Tolstois Roman auf ihrer Hochzeitsreise gelesen, in dem die Titelheldin für ihre neue Liebe Mann und Kind verlässt, nicht zuletzt wegen der gesellschaftlichen Konventionen unglücklich wird und sich am Ende vor den Zug wirft. Ohne zu viel zu verraten: Bei Colwin kommt es anders als bei Tolstoi. Die gesellschaftlichen Konventionen spielen bei ihr allerdings auch eine entscheidende Rolle, verkörpert durch Pollys Mutter, die unaufhörlich dafür sorgt, dass ihre Tochter ihre Aufgaben als Mutter, Tochter und Ehefrau auch ernst genug nimmt, oder anders gesagt: die unaufhörlich dafür sorgt, dass Polly sich schlecht fühlt. Komik und Tragik halten sich bei Laurie Colwin auf unvergleichliche Weise die Waage, und wie die Geschichte bei ihr ausgeht, das ist noch heute durchaus revolutionär.

„Du bist mein Vorbild, wenn’s darum geht, wie die Dinge sein sollten“, sagte Martha. „Du weißt, wie du mit all dem Zeug umzugehen hast, das mir eine Höllenangst einjagt. Ehemänner. Kinder. Familie.“
Polly überlegte, Martha gegenüber die Dinge ins richtige Licht zu rücken, aber es ging nicht. Die Vorstellung war zu erschütternd.
„Ach, Martha“, sagte sie stattdessen. „Du hast alles noch vor dir. Du hast noch keine Fehler gemacht. Du hast noch nichts Unwiderrufliches getan. Weißt du, du musst Spud nicht heiraten.“
Martha gähnte. „Ich wünschte, ich würde mir ein Leben wie deines wünschen. Versteh mich nicht falsch. Ich glaube, deine Art zu leben, ist richtig. Du liebst deine Familie. Ich liebe meine auch und halte es trotzdem nicht aus, mit ihnen in einem Raum zu sein. Du hast geheiratet. Du hast Pete und Dee-Dee. Was habe ich? Ich habe meine Neurosen und einen netten Freund, den ich einfach nicht heiraten kann.“ […]
Polly schwieg.
„Ich sollte wirklich versuchen, den Mund zu halten“, sagte Martha. „Ich quatsche so vor mich hin. Habe ich was Falsches gesagt?“
„Nein.“ Polly starrte ihre Hände an. „Es tut mir weh, dass ich für dich ein Vorbild bin, weil ich eine Affäre habe.“
„Oh“, sagte Martha. „Der Maler aus der Mittagspause. Lincoln.“

Frauenfreundschaften sind übrigens in allen drei Romanen ein wichtiges Nebenthema, überall spielen Freundinnen mit ihrem anderen Leben, ihren eigenen Erkenntnissen eine entscheidende Rolle als wichtige Gesprächspartnerin, als Spiegel und als Ermutigerinnen – auch im letzten Roman des Frühjahrsprogramms, Zauberhafte Aussichten von Stella Benson, erstmals erschienen 1919 in London unter dem Titel Living Alone, und nun ins Deutsche übersetzt von Marie Isabel Matthews-Schlinzig. Sarah Benson (1892-1933) setzte sich in England aktiv für das Frauenwahlrecht ein, wurde als Autorin von Katherine Mansfield und Virginia Woolf bewundert und erhielt für ihre Romane den Prix Femina sowie die Benson-Medaille. Ihre Protagonistin wirbelt das Leben gleich mehrerer Frauen durcheinander, als sie, eine junge Hexe, die während des Ersten Weltkriegs in London lebt, eines Tages in die Sitzung eines Wohltätigkeitsvereins platzt.

Sechs Frauen, sieben Stühle und ein Tisch befanden sich in einem ansonsten unmöblierten Zimmer in einem unmodischen Stadtteil Londons. […]
Alle sechs Frauen waren in dem Zimmer, weil sich ihr Land im Krieg befand und weil sie es als ihre Pflicht betrachteten, es dabei zu unterstützen, vorerst im Krieg zu bleiben. Sie bildeten den Kern eines Komitees für Kriegseinsparungen, und sie warteten auf ihren Vorsitzenden, der Bürgermeister des Bezirks war. Er war außerdem Gemischtwarenhändler.
Fünf der Mitglieder diskutierten Methoden, um arme Leute vom Sparen zu überzeugen. Das sechste hinterließ mit einem Füller Kleckse auf dem Tisch.
Sie wurden unterbrochen, nicht von dem erwarteten Bürgermeistern, sondern von einer jungen Frau, die ungestüm durch die Haustür hereinkam, in die Mitte des Zimmers stürzte und unter den Tisch kroch. Überrascht schoben die Mitglieder ihre Stühle zurück und gaben damenhafte Laute des Protests und der Neugier von sich.


Die alleinstehenden Frauen, die Stella Benson ins Zentrum ihres Romans rückt, fühlen sich unwiderstehlich angezogen von dieser Frau und dem anarchistischen Element, das sie in ihre Leben bringt. Einige von ihnen folgen ihr in das Haus auf der Themse-Insel und lassen zu, dass die rechtlichen und gesellschaftlichen Normen, die ihr Leben bisher bestimmten, samt der bourgeoisen Moralvorstellungen außer Kraft gesetzt werden – zugunsten von Magie und Humor, zugunsten neuer Möglichkeiten. Die Schilderung der damaligen Londoner Gesellschaft hat eine große Unmittelbarkeit, und die wie selbstverständlich in die realistischen Szenen eingewobenen fantastischen Elemente machen nicht nur sehr viel Spaß, sondern schärfen geradezu die Sehkraft. Ein Roman, der alle Genre-Grenzen sprengt und dadurch Räume öffnet – seinen Figuren und seinen Leser*innen.

Alle Titel der Reihe sind jetzt für jeweils 15 Euro im Buchhandel erhältlich und zum Beispiel über genialokal in einer Buchhandlung in der Nähe online bestellbar. Und hier geht es nochmal zu den ersten drei Titeln von rororo Entdeckungen.

Nicole Seifert

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

Ein Kommentar zu „Es geht weiter mit rororo Entdeckungen

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