Nichts ist schwarz-weiß

Als der New Yorker Ende 2017 die erste Short Story der 1982 geborenen Kristen Roupenian veröffentlichte, erlebten die Zeitschrift und die bis dahin unbekannte Autorin einen viralen Hype, den es auf literarischem Gebiet so noch nicht gegeben hatte: „Cat Person“ wurde so oft geteilt und geklickt wie keine Kurzgeschichte zuvor und zur „meistdiskutierten Short Story aller Zeiten“ (Guardian). Das hatte zwei Gründe: Sie ist richtig gut. Und Gegenstand der Geschichte ist eine mehr oder weniger freiwillige sexuelle Begegnung zwischen Mann und Frau, die es schwer macht zu entscheiden, wer wem übel mitspielt. Den Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte das Magazin klug gewählt: kurz nach den Weinstein-Enthüllungen.

Wie die meisten der in diesem Band versammelten Stories beginnt „Cat Person“ – benannt nach der typischen Dating-Frage: „Are you a cat or a dog person?“ – vollkommen harmlos. Eine 19-Jährige und ein 34-Jähriger lernen sich im Kino kennen, flirten, gehen zusammen aus und landen bei ihm zu Hause im Bett. Das hat auch sie vorangetrieben und gewollt. Dann aber führt sein Verhalten dazu, dass sie Zweifel bekommt, und als er sie erst unappetitlich küsst und dann mit heruntergelassener Hose vorgebeugt seine Schuhe auszuziehen versucht, vergeht ihr alles. Eigentlich will sie nicht mehr.

Aber der Gedanke daran, was es an Aufwand bedeuten würde, jetzt zu stoppen, was sie in Bewegung gesetzt hatte, war überwältigend. Es hätte ein Maß an Takt und Sanftmut gebraucht, das sie sich nicht vorstellen konnte aufzubringen. Das Problem bestand nicht darin, dass er sie zu etwas zwingen könnte, was sie nicht wollte. Eher darin, dass, wenn sie jetzt darauf bestand, aufzuhören, nach allem, was sie unternommen hatte, damit es so weit kam, es sie mies und launenhaft hätte aussehen lassen. So als hätte sie in einem Restaurant eine Bestellung aufgegeben, nur um das Essen dann, als es kam, zurückgehen zu lassen.

In einer Zeit, in der auf dem Prüfstand steht, was zwischen Männern und Frauen akzeptabel ist und was nicht mehr, erzählt „Cat Person“ von einer Situation, die eindeutig kein Missbrauch und trotzdem nicht leicht einzuordnen ist. Es scheint durch, was das Verhalten der beiden Figuren motiviert, wie unsicher er ist, in welchen Konventionen sie gefangen ist. Von Margaret Atwood stammt die Beobachtung, dass Männer Angst haben, von Frauen ausgelacht zu werden, während Frauen Angst haben, von Männern umgebracht zu werden. Falls jemand diesen Satz übertrieben findet: Ich denke, nach dieser Geschichte versteht er mehr. (Ein Blick in die Zeitung, die täglich über von Männern ermordete Frauen berichtet, wäre eine weitere Möglichkeit.)

Auch die elf anderen Erzählungen in diesem Buch loten die Abgründe zwischenmenschlicher Begegnungen und sexuellen Begehrens in Zeiten von Tinder & Co aus, und sie sind fast allesamt extremer, gewaltvoller. Da ist die Geschichte von dem Paar, das einen Freund mit Liebeskummer bei sich aufnimmt und angesichts seines Elends zu ganz neuer Form aufläuft, auch im Bett. Das geht soweit, dass sie ihren Freund als Zuschauer beim Sex brauchen und schließlich alle gemeinsam zum Täter werden. Da ist die Geschichte von dem misslungenen Junggesellinnenabschied, bei dem ein (ohne sein Wissen) als Sexobjekt eingeladener Schauspieler versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Es gibt ein Kunstmärchen, eine Erzählung mit fantastischen und eine mit Horror-Elementen. Die Qualität der Stories schwankt. Kaum eine ist derart durchgearbeitet wie „Cat Person“, selten sind die Figuren so komplex wie hier. Allerdings dürfte die Autorin von Verlagsseite nach ihrem enormen Online-Erfolg auch nicht besonders viel Zeit gehabt haben, diesen Band zusammenzustellen. Die Vermutung liegt nahe, dass durch den Vermarktungsdruck auch Älteres und Unausgegorenes aufgenommen wurde.

In einem Interview zitierte Kristen Roupenian den Oscar Wilde zugeschriebenen Satz, demzufolge es immer um Sex geht, bei allem, nur beim Sex nicht, da geht es um Macht. Die Autorin zwingt ihre Leser*innen in nahezu allen Geschichten, sich mit Figuren zu identifizieren, die sich dieser Macht bewusst sind, die zum Teil abseitige Gelüste haben und ziemlich unsympathisch sind. Oft wird einem unbehaglich, man ist schockiert. In den weniger gelungenen Stories kommt der Verdacht auf, dass einfach um des Schockmoments willen schockiert werden soll, aber in den besten wird das Abgründige nachvollziehbar. Nie verurteilen diese Geschichten, um Moral geht es hier – jedenfalls vordergründig – nicht. Klar wird jedoch: Nichts ist schwarz-weiß, die Ambivalenzen müssen ausgehalten werden, mit diesen Abgründen müssen wir leben.

Nicole Seifert

Kristen Roupenian
Cat Person
Storys
Aus dem Amerikanischen von Nelly Beljan und Friederike Schilbach
Blumenbar 
276 Seiten
20 Euro

 

 

 

 

 

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

Ein Kommentar zu „Nichts ist schwarz-weiß

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