Direkt auf die Katastrophe zu

Eigentlich hatte ich gar nicht vor, diesen 870-Seiten-Roman zu lesen. Keine Zeit, zu viel anderes, was ich lesen will und muss, und so richtig gereizt hat mich die Geschichte eines mittelalten Verlegers in der Krise auf den ersten Blick auch nicht. Aber dann hat einer meiner Lieblingsbuchhändler, Frank Menden aus der Hamburger Buchhandlung stories!, sehr geschwärmt von diesem Debüt der 34-jährigen schwedischen Autorin und praktizierenden Psychologin Lydia Sandgren. Ein bisschen wie Netflix gucken wäre es, er hätte den Roman trotz seines Umfangs an wenigen freien Tagen durchgelesen. Also habe ich mal reingeguckt – und konnte das Buch für ein paar Tage kaum aus der Hand legen. Es ist perfekt geeignet, wenn man für einige Zeit ganz in eine Geschichte abtauchen möchte, und es ist tatsächlich ein bisschen, als würde man eine skandinavische Serie gucken: Sandgren lässt sich Zeit (aber nicht zu viel Zeit), ihre Figuren und Handlungsbögen zu entwickeln, alles ist sehr anschaulich geschildert, ohne dass sie sich zu ausführlich in Beschreibungen erginge, die Dialoge sind gut, es liest sich süffig.

Wir lernen Martin Berg kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag kennen, er lebt in Göteborg, zusammen mit seinem Sohn, dem Teenager Elis. Die ältere Tochter Rakel ist schon in eine eigene Wohnung nicht weit entfernt gezogen und studiert. Die Mutter der Kinder, Cecilia, hat die Familie vor vielen Jahren verlassen – ohne es vorher anzukündigen. Sie war eines Morgens einfach nicht mehr da, hat einen kurzen Abschiedsbrief hinterlassen und sich nie wieder gemeldet. Das Ungeheuerliche an der Situation scheint inzwischen normal geworden, alle leben damit, ohne darüber zu reden und werden auch ungern darauf angesprochen. Was soll man schließlich noch dazu sagen?

Lydia Sandgren verwebt nun geschickt Vergangenheit und Gegenwart ihrer Figuren und erzählt parallel, aus was für einer Familie Martin kommt, wie er schon in der Schule in den Siebzigerjahren seinen besten Freund Gustav kennenlernte, wie dieser an der Kunstakademie in Göteborg war, während Martin Literaturwissenschaft studierte und auch selbst anfing zu schreiben. Wie er die sehr autonome, intelligente Cecilia kennenlernte, die an ihrer ambitionierten philosophischen Doktorarbeit saß, wie sich die Beziehung stockend entwickelte und mit Gustav zu einer Freundschaft zu dritt wurde, wie Martin mit einem anderen Freund einen immer an der Pleite vorbeischrammenden Verlag gründete, während Gustav bald zu einem berühmten Maler wurde, wie Martin und Cecilia das erste und das zweite Kind bekamen. Gleichzeitig lernen wir diese Kinder als (fast) Erwachsene kennen, als eigenständige Menschen, die auf ihre Weise mit ihrer sehr speziellen Geschichte umgehen. Und diese wird plötzlich wieder sehr präsent. Denn zum einen hat Gustav eine große Ausstellung, für die an allen Ecken Göteborgs mit einem seiner zahlreichen Cecilia-Porträts geworben wird. Zum anderen soll Rakel – weil sie nach einem Auslandsaufenthalt gut deutsch spricht – für ihren Vater den Roman eines Berliner Autors begutachten und glaubt in der Hauptfigur ihre Mutter wiederzuerkennen. Statt das Gutachten zu schreiben, geht Rakel ihrem Vater aus dem Weg und der Sache auf den Grund. Auf beiden Erzählebenen steuert Lydia Sandgren so auf die Frage zu, was damals eigentlich genau passiert ist, warum Cecilia auf diese Weise die Familie verlassen hat und warum Martin, der seitdem keine ernsthafte Beziehung mehr eingegangen ist und immer noch seinen Ehering trägt, nie richtig nach ihr gesucht hat. 

Sandgrens ganz große Stärke sind dabei ihr umfangreiches, unverwechselbares Personal und die Psychologie ihrer Figuren, die immer schlüssig ist, ohne allzu schlüssig zu geraten, die Fragen offen lässt, aber auch genug beantwortet. Der äußerst liebenswerte, dabei mindestens von Alkohol abhängige Gustav, die passiv-aggressive Mutter von Cecilia, der in seiner Blassheit sehr lebendige Kompagnon Per, selbst die Großmutter von Gustav, die nie direkt auftritt, sind allesamt sehr glaubhafte, lebendige Figuren mit hohem Wiedererkennungswert. Auch Cliffhanger beherrscht die Autorin, die zehn Jahre an diesem Roman geschrieben und 2020 dafür den renommierten August Preis erhalten hat. 

Schwer zu sagen, was genau den Sog dieses Buches erzeugt. Es hat mit der Unmittelbarkeit zu tun, mit dem klaren Strich der Autorin, und sicher auch mit der Dramaturgie. Gegen Ende des Romans geht es einmal kurz um Aristoteles’ Poetik, derzufolge die Handlung direkt auf die Katastrophe zusteuern müsse – wie es hier geschieht. Und noch etwas aus der Poetik scheint Sandgren befolgt zu haben: Eine gute Tragödie macht Aristoteles zufolge aus, dass ein ethisch guter Charakter einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebe, jedoch nicht wegen seiner Schlechtigkeit, sondern wegen eines Irrtums, wegen mangelnden Wissens über eine Situation. Cecilia ist ein Mensch, der für das Studium, für das Lesen, Lernen und die Erkenntnis lebt. Die Schwangerschaften und die (damals noch nicht so benannte) postpartale Depression, unter der sie nach der zweiten Niederkunft leidet, setzen ihr schwer zu und entfernen sie von sich selbst in einer Weise, die an die Diskussion nach der 2015 veröffentlichten israelischen Studie Regretting Motherhood denken lässt. Es geht in diesem Roman also nur vordergründig um einen wortkargen, alleinerziehenden Kleinverleger und seine geheimnisvolle verschwundene Frau. Dahinter geht es um ein großes Tabu: um die Frau, die ihre Familie verlässt. Es geht um Rollenerwartungen und darum, was sie mit den Menschen machen, um die Möglichkeiten, die sie ihnen lassen. Außerdem geht es in mehreren Varianten um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern und um Freundschaft. Und in beidem um Nähe und Distanz, um das, was man sich erzählt und was nicht, auch weil man es vielleicht selbst nicht versteht, keine Worte dafür hat. 

Die vielen literarischen Anspielungen, beispielsweise auf biblische Figuren oder auf den Existenzialismus, ließen sicher noch viele interessante Interpretationen mehr zu. Auch das zeigt: Gesammelte Werke ist nicht nur ein dicker, sondern auch ein großer Roman. Unbedingte Empfehlung.

Nicole Seifert

Lydia Sandgren
Gesammelte Werke
Roman
Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig
mare Verlag
28 Euro
874 Seiten

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

6 Kommentare zu „Direkt auf die Katastrophe zu

  1. Jetzt hast du mich total neugierig gemacht – und ja, der ursprünglichen Beschreibung nach würde ich das Buch auch nicht unbedingt in mein Beuteschema einordnen!
    LG, Tala

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  2. Oooh, ich habe bisher soviel gutes gehört und letztens ist es mir (einfach so!) im Buchladen auf den Stapel gehüpft und liegt aber seitdem (leider!) Zuhause auf wieder einem Stapel.
    Aber über Weihnachten vielleicht …

    LG
    Lea

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  3. Ich kann diesen Sog und die Vielzahl an Verweisen auf Literatur und Kunst (eigentlich geht es um das Entstehen eines Buches, vom Schreiben übers Bearbeiten bis zum Übersetzen) bestätigen. Ich hätte mich allerdings gegen Ende noch über eine „dramaturgische“ Überraschung gefreut, die Entwicklung der Geschichte rund um das Verschwinden von Martins Frau fand ich dann doch etwas vorhersehbar. Trotzdem für mich eines der ganz großen Bücher des Jahres. Viele Grüße

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  4. Danke für die wunderschöne Zusammenfassung des Buches, ich habe es auf meine Leseliste gesetzt und freue mich, es während der Weihnachtszeit zu lesen. Ich bin übrigens über das Buch FRAUEN-LITERATUR auf deinen Blog aufmerksam geworden – finde beides sehr wertvoll!

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