3. Nacht-und-Tag-Lesekreis: Brigitte Reimann

Als 1998 der erste Band der Tagebücher von Brigitte Reimann erschien, einer der wichtigsten Schriftsteller*innen der DDR, konnte ich ihn kaum beiseitelegen. Der Verlauf von Reimanns leidenschaftlichen Lieben, der DDR-Alltag, ihr anfänglicher Idealismus, die Entwicklung von Staat und Regime im Laufe der Jahre und das Mit- und Gegeneinander der Schriftsteller*innen des Landes – all das war mit mitreißender Unmittelbarkeit beschrieben, mit einer ganz eigenen Stimme und mit Sinn für Komik. Was ich aus irgendwelchen Gründen bisher trotzdem nie gelesen hatte, war Reimanns einziger, unvollendet gebliebener Roman, Franziska Linkerhand, ein Buch, das für viele Leser*innen große Bedeutung hat, wie mir durch die Aktion #autorinnenschuber klar wurde, und das Kindlers Neues Literaturlexikon „eins der wichtigsten und schönsten Bücher in der gesamtdeutschen Literatur“ nennt.

Die Geschichte von Franziska Linkerhand, die nach dem Studium als ehrgeizige Architektin nach Neustadt – orientiert an Hoyerswerda – geht, um dort am Neubau von Wohnungen und des Stadtzentrums mitzuwirken, ist nicht nur wegen der historischen Hintergründe interessant, sondern vor allem wegen der Konflikte der Protagonistin, die mit Vorstellungen einer humanen, anspruchsvollen Architektur antritt und es dann mit den Funktionären des Stadtplanungsbüros und ihren Plansollziffern zu tun bekommt. Auch ihre bürgerliche Herkunft birgt innere Konflikte, genau wie ihre gerade zu Ende gegangene, gewalttätige Ehe und die beginnende komplizierte Liebesgeschichte mit Ben, der auf der ersten Seite direkt angesprochen wird. 

Es scheint sich bei dem Roman zunächst um einen Briefmonolog zu handeln, aber bald mischt sich auch ein allwissender Erzähler ein – erstmal irritierend, aber dann entwickelt dieses Kippen zwischen innerer und äußerer Perspektive einen eigenen Reiz und Mehrwert (Oder? Auf jeden Fall ein Punkt für die Diskussion unten in den Kommentaren). Überrascht hat mich, wie jung und frisch der Roman fast fünfzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen wirkt. „Ton und Atmosphäre des Buchs sind vom ersten Satz an unverkennbar und originell“, hieß es 1998 in der FAZ anlässlich des Erscheinens der manuskriptgetreuen Fassung. Nicht überraschend, dass der Roman zu DDR-Zeiten ein Bestseller war. Zwar enthielt die DDR-Ausgabe ein vom Lektor hinzugefügtes Ende und zahlreiche zensurbedingte Änderungen, trotzdem identifizierte sich eine ganze Generation damit, die die Gründung der DDR als Jugendliche erlebt und solidarisch am Aufbau einer besseren Welt hatte mitarbeiten wollen, inzwischen aber zweifelte. 

Es ist ein Roman mit vielen Facetten, wir werden gar nicht alles Interessante ansprechen können. Die biografischen und historischen Hintergründe sind ergiebig, darunter Hoyerswerda als Ort im Entstehen und fast gleichzeitig auch schon im Niedergang, das Thema Architektur, die Bezüge auf Kunst und Kino. Interessant sind auch die Weiblichkeitsbilder im Roman, das Selbstverständnis von Franziska Linkerhand und wie sie sich von anderen Frauenfiguren abgrenzt. Und verbunden mit ihrer Entwicklung die Frage: Ist es ein Entwicklungsroman oder nicht? Autorin und Kritik waren da unterschiedlicher Meinung. Auch die Editions- und die Rezeptionsgeschichte in Ost und West wäre ergiebig.

Gerade weil es so viele spannende Themen gibt, will ich diesmal gar nichts vorgeben, sondern alle, die mitmachen wollen, einfach bitten, selbst ihre Lieblingsthemen anzusprechen und einfach mal anzufangen: Wie ging es euch mit der Lektüre? Habt Ihr Lieblingszitate? Gedanken? Fragezeichen? Ich bin gespannt auf eure Beiträge und habe selbst ein, zwei Lieblingsthemen. Vielleicht noch ein Tipp: Am Laptop oder PC lassen sich die Kommentare besser darstellen und bearbeiten als in der mobilen Version – das nur zur Erleichterung, falls Ihr die Wahl habt. 

Quellen:

Withold Bonner, „Franziska Linkerhand: Vom Typoskript zur Druckfassung“, in: Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand, Aufbau Verlag 2018
Angela Drescher, „… und alles soll schlimm ausgehen“, in: Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand, Berlin 2018
Jochen Hieber, „Das pure Leben“, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kindlers Neues Literaturlexikon, Hg. v. Walter Jens, Band 13, München 1996
Christina Müller, Der Schritt durch den Rahmen, Bild und Weiblichkeitsmythos im Werk Brigitte Reimanns, Bielefeld 2012

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Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

23 Kommentare zu „3. Nacht-und-Tag-Lesekreis: Brigitte Reimann

  1. Liebe Nicole,
    Die Idee, Franziska Linkerhand zu lesen und darüber zu diskutieren finde ich genial. Brigitte Reimann gehört zu meinen Lieblingsschriftstellerinnen, als Jugendliche bekam ich „Ankunft im Alltag“ geschenkt, das ich verschlungen habe. Ich beteilige mich gerne an dem Lesekreis, lese das Buch gerade noch mal, kenne nur die gekürzte Fassung. Der Ton, die Sprache, die klaren, oft witzigen Statements – kaum zu glauben dass das vor so vielen Jahren geschrieben wurde! Eine wunderbare Neuentdeckung!

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  2. Liebe Nicole, habe mir den Roman ja auf die Ankündigung deines Lesekreises hin gekauft. Über Seite 44 bin ich bislang noch nicht hinausgekommen. Meines Erachtens ist der Roman sprachlich komplex, ich kann ihn nicht so „weglesen“. Auch wenn mir der Beginn des Romans nicht antiquiert vorkommt, empfinde ich doch eine relative Distanz zu den Schilderungen. Ich habe deshalb erst mal begleitende Literatur zu Brigitte Reimann gelesen, um es im Kontext halbwegs einordnen zu können.

    Ich werde die Diskussion hier verfolgen, inhaltlich kann ich leider (noch) nicht mehr dazu beitragen, bin aber sehr gespannt auf die Auseinandersetzung hier.

    Herzliche Grüße, Roma

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    1. Ich musste auch erstmal reinfinden und bin zwei Mal steckengeblieben, obwohl ich den Ton so gern mochte. Zu dem Gefühl, sich sehr konzentrieren zu müssen, tragen die Perspektivwechsel anfangs sehr bei, fand ich, wie auch die Vielzahl der (Männer-)Figuren, die ich nicht gleich alle auseinanderhalten konnte…

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  3. Liebe Nicole, auch ich habe mir den Roman auf Ankündigung des Lesekreises gekauft und bin sehr gespannt, was uns alle erwartet. Die Sprache des Buches ist eine Freude, wirklich komplex und manche Sätze sind sperrig. Ich habe auch Wörter nachgeschlagen (eher aus den Sätzen zur Großen Alten Dame). Es ist definitiv kein Buch zum „Drüberlesen“. Was ich interessant finde: Die Darstellungen anderer Frauen (zB die Große Alte Dame, Gertrud) neben Franziska und die Frage, wieviel Spannung zwischen Vision und Realität ein Mensch erträgt.

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  4. Liebe Nicole, Franziska Linkerhand ist einer meiner liebsten Romane. Ich habe mich im Studium viel mit Brigitte Reimann beschäftigt und meine Abschlussarbeit über den Roman geschrieben. Ich habe ihn jetzt seit einigen Jahren nicht gelesen. Aber immer, wenn neue Briefwechsel veröffentlicht werden, tauche ich wieder in ihre Welt ein.
    Du sprichst in deinem Artikel das „Kippen zwischen innerer und äußerer Perspektive“. Das hat mich damals auch sehr interessiert und es war eindeutig ein Entwicklungsprozess Reimanns. Sie hat den Roman 1965 nochmal quasi neu begonnen. Das dritte Kapitel wurde 1964 in der Zeitschrift „Neue Texte“ veröffentlicht und dort erkennt man, dass sie inhaltlich kaum etwas geändert hat, formal aber viel. In der ursprünglichen Fassung findet kein Wechsel von vom auktorialen zum Ich-Erzähler statt. Ben als Dialogpartner kommt auch erst in der späteren Fassung dazu. Reimann wollte sich wohl mehr am zeitgenössischen Roman orientieren. Das hat sie in einem Brief 1965 auch selbst geschrieben: „“Konzeption“ und „Fabel“ und der ganze Quatsch sind Erfindungen von Literatur-Eunuchen. Es gibt kein göttliches Gebot, daß ein Roman eine Fabel haben müsse und daß er nicht aus lauter Abschweifungen bestehen dürfe und aus lauter Geschichten, die sich vierhundert Seiten lang damit vergnügen, die Konzeption zu durchbrechen.“ (Die geliebt, die verfluchte Hoffnung) Ich liebe an dem Roman gerade diesen Wechsel.
    Upps, ich hoffe, das war jetzt nicht zu lang. Lieb Grüße, Anja

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  5. Franziska Linkerhand stand schon lange auf meiner Liste und mit dem „Push“ bin ich’s jetzt endlich angegangen, zum Glück! Die Perspektivwechsel waren am Anfang sehr irritierend und ich dachte, das wäre ein Suchen und Ausprobieren für den richtigen Ton. Ich habe bewusst keine Sekundärliteratur davor gelesen, jetzt würde mich interessieren, ob das immer noch im Überarbeitungsmodus war, oder die Wechsel ein bewusst gewähltes Stilmittel sind. Die Sprache wirkt unmittelbar, ganz nah dran an der eigenwilligen Protagonistin. Ein Stück Zeitgeschichte, die Traumata des Zweiten Weltkriegs, Aufbau der DDR, ein neues, anderes Frauenbild und das alles mit einem eigenen Blick von innen heraus erzählt. So vieles wirkt heute noch zeitgemäß: „Alles auf der Welt hat seinen Preis, auch die Gleichberechtigung: Die Männer bitten zur Kasse. Die Frau ist Kollegin, Mitarbeiterin, Konkurrentin geworden, ihr Anspruch auf Höflichkeit und zarte Schonung gestrichen. Sie mißfällt, wenn sie Schwäche verrät, und mißfällt, wenn sie sich stark macht. Sie ist zu tüchtig oder nicht tüchtig genug und als Vorgesetzte einfach ein Unglück.“
    Wenn ich sehe, welchen Quatsch meine Tochter in der Schule lesen muss, wünschte ich mir, Franziska Linkerhand wäre Schullektüre, so viel deutsche Geschichte und gute Literatur auf einmal.

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    1. Zu den Perspektiven finde ich Anjas Beitrag spannend. Ich fand auch, dass das Kippen wirklich einen Mehrwert hat, weil es ja auch manchmal einen Clash bedeutet, der Franziskas inneren Konflikt (ich meine Idealismus / staatliche Verordnungen) nochmal deutlich macht, nicht nur, wenn Franziska buchstäblich das Wort entzogen wird.

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  6. Schöner Beitrag, der wirklich Lust auf das Buch macht. Ich hab es jetzt nicht nochmal in die Hand genommen, habe es dank intensiver Beschäftigung vor 10 Jahren aber noch ganz gut in Erinnerung (evt. leicht verfälscht durch die DDR-Verfilmung „Unser kurzes Leben“, die ich neulich endlich geschaut habe) und finde auch, dass es sich stets unheimlich frisch und erfrischend las.

    Besonders faszinierend an dem Buch fand ich immer dessen Fragmentcharakter, der zumindest nach Ansicht mancher keineswegs dem Umstand geschuldet war, dass die Autorin vor der Fertigstellung starb. Wenn ich mich richtig erinnere, wusste sie selber irgendwann nicht mehr, wie das Buch noch zu einem guten Abschluss hätte gebracht werden können, sie hat ja extrem lange daran gearbeitet. Das abgebrochene Ende wäre dann also gewissermaßen kein von außen kommender Zufall, sondern die einzige dem Stoff angmessene Lösung. Umso perfider, dass ihr Lektor dann ein Ende dazuerfinden musste, damit die DDR-Ausgabe erscheinen musste.

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  7. Nur mal so zehn Seiten in diesem Buch zu lesen, ist nicht möglich, da sich der Sinn dann nicht erschließt, ein anspruchsvoller Text voller Gedankensprünge und Perspektivwechsel. Neustadt, wo Franziska als Architektin arbeitet, könnte Hoyerswerda sein. Das Buch beschreibt die Entwicklung der jungen Frau, ihr Elternhaus, sie war die Beste in Mathematik und hat mit 25 schon eine misslungene Ehe hinter sich. In der 2. Hälfte liest es sich leichter, nicht mehr so verwirrend, ihre Gedanken werden mit zunehmendem Alter vielleicht klarer. Der Perspektivwechsel zwischen 1. und 2. Person, manchmal innerhalb eines Abschnitts ist sehr speziell eingesetzt. Franziska kommt an vielen Intellektuellen Themen, wie zB der Definition von Schönheit vorbei. Ihr Umgang mit Männern ist unorthodox und ihrer Zeit voraus.
    Gerade habe ich noch einmal Kapitel 2 gelesen, ein tolles Kapitel, in dem sie ihren Abschied von der Kindheit beschreibt und ihr gestörtes Verhältnis zu ihrer Mutter.
    Da wo sich Brigitte Reimann alias Franziska Linkerhand (oder umgekehrt) hinterfragt, was sie geschaffen hat und wofür das Ganze, ist sie mir am nähesten . (Kapitel 14)

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  8. Auf den Lesekreis zu Franziska Linkerhand bin ich über Twitter gekommen, mein erster Lesekreis. Da ich das Buch nach etlichen Jahren noch einmal lese, werde ich nicht viel beitragen können. Aber die Diskussion hier werde ich verfolgen.

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    1. Es ist auch mein erster Lesekreis und ich lese ganz gespannt jeden Kommentar. Ich habe keine Sekundärliteratur gelesen und freue mich gerade über das Wissen all derjenigen, die sich bereits intensiver mit dem Buch auseinandergesetzt haben.

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  9. Da ich gerade an meinem Instagram-Post sitze, dem natürlich viel zu wenig Zeichen für diesen Roman zur Verfügung stehen: Ich hatte grundsätzlich Probleme, all ihren Emotionen und Gefühlen gegenüber den Männern zu folgen. Beim Lesen soghaft, zugleich oft genug für mich persönlich wirr, zutiefst intim. Weitaus simpler die Thematik Arbeit sowie die damit zusammenhängenden aber auch allgemeinen Gedanken zu Männer- und Frauenrollen. Obwohl mein Bezug zur DDR gar nicht so gering ist, bin ich doch jedes Mal wieder überrascht, wie desillusioniert bereits so früh sich viele Dinge darstellten. Reimanns Erzählen über die Menschen, die Gesellschaft gefiel mir insgesamt außerordentlich gut, u. a. weil es sehr nah wirkt. Daneben interessant, wie ihr Kampf mit dem Roman, dem Schreiben etc. spürbar ist.

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    1. Danke für deinen Beitrag. Was die Gefühle gegenüber den Männern betrifft, würde mich interessieren, ob es den anderen ging wie dir. Ich weiß, dass mich genau das bei den Tagebüchern am meisten gepackt hat, aber ich weiß nicht, wie es wäre, wenn ich sie heute (20 Jahre älter) nochmal läse…

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  10. Beim ersten Lesen von Franziska Linkerhand war ich sehr jung (16 oder 17.). Identifizierend habe ich auch damals nicht gelesen, aber die Distanz zur Figur der Franziska (die ich faszinierend finde) war beim Wiederlesen viel stärker als damals. Mich hat zum Beispiel jetzt gestört, dass diese aneckende Frauenfigur alle anderen Frauen um sich stets mit männlichem Blick seziert: Hat sie eine gute Figur, wie kleidet sie sich, hat sie einen Mann, wird sie begehrt? Und auch die Männer rund um Franziska scheint es nur in zwei Kategorien zu geben: Geeignet, sich in sie zu verlieben oder eben nicht – und falls nicht, so sollen sie wenigstens Franziska verfallen so wie ihr Vorgesetzter. Das ist natürlich eine Schablone, die ich auch wegen späterer Lektüre- und Lebenserfahrungen an den Text anlege. Der Roman ist viel komplexer als diese „Frauenfrage“, aber die wirft er für mich auch auf.

    Ganz interessant wird das verschränkt mit der Klassenzugehörigkeit in der DDR, die der Hauptfigur unmöglich macht, sich mit den meisten Frauen gemein zu machen: Sie gehört wegen ihrer bürgerlichen Herkunft nie ganz dazu, egal, wie „männlich“ sie versucht, sich zu verhalten und wie sehr sie die bürgerlichen Manieren der Mutter ablehnt. Vielleicht ist das nicht intendiert durch die Autorin, aber für mich kommt sehr gut rüber, dass die DDR natürlich kein feministischer Staat war, aber auch eigentlich kein Staat für Frauen, wie er manchmal verklärend dargestellt wird: Der verdruckste Umgang mit Gewalt gegen Frauen, die oft harte Arbeit, die doppelte Belastung, das „dicke Fell“, das man sich zulegt, um in den Männerberufen einigermaßen geachtet zu werden…

    Ach, und noch eine Liebessache: Wirklich unangenehm berührt hat mich, dass Franziska sich unbedingt an den Typen binden muss, der nach Meinung der Erzählerinnenstimmen, ihres Bruders und ihres Vorgesetztem ihrem Bruder bis ins Detail gleicht. Puh… Subtil ist das nicht, auch die Beziehung zu den Eltern ist ja schon Freud für Einsteiger. Oh, beim Wiederlesen auch unangenehm: Wie konnte mir damals nicht auffallen, wie oft das N-Wort fehlt? Natürlich wäre es vermessen, heutige Maßstäbe an das Buch anzulegen, aber es taucht wirklich so oft auf – ich hatte das wirklich nicht in Erinnerung.

    Was die raschen Wechsel der Erzählperspektive angeht, teile ich deine Auffassung, Nicole: Mir hat das ästhetisch sehr gefallen, das entwickelt einen Sog… Mag auch sein, dass die Autorin hier die Annäherung an „große“ westliche Vorbilder gesucht hat und weil ich entsprechende Lektüre-Erfahrung en masse gesammelt habe, spricht mich das an.

    Zum Ende hin erscheint mir die Sprache immer elliptischer. Und zwar bis zu einem Punkt, an dem ich mir nicht jederzeit sicher war, ob das gewolltes Stilmittel ist, ob einfach der Text ein entsprechendes Eigenleben entwickelt hat beim Schreiben, ob die Autorin vielleicht noch etwas daran geändert hätte, wäre sie nicht gestorben.

    Das in einem Kommentar erwähnte Fragmentarische wirft für mich interessante Fragen zum Verständnis von Autorinnenschaft und literarischem Qualitätsurteil auf: Welche dieser Lücken sind von der Autorin tatsächlich gewollt, wo fehlte ihr schlicht am Ende die (Lebens-)Zeit? Und wenn wir von fehlender Zeit ausgehen würden, wäre unser Urteil über die literarische Qualität des Romans dann strenger oder milder? Kann es sein, dass manches, was uns vielleicht aus unserer heutigen Perspektive interessant erscheint, einfach übersehen wurde von der Autorin und von ihr selbst womöglich gar nicht als so gelungen angesehen würde? An einigen wenigen Stellen hatte ich tatsächlich den Eindruck: Da hat sie jetzt schlicht vergessen, dass sie sich wiederholt, das ist kein Stilmittel mehr. Oder: Das ist einfach schwülstig, vielleicht hätte sie das noch gestrichen, etwas anderes gekürzt dafür – aber wissen kann ich das als Leserin eigentlich nicht.

    Auf jeden Fall ein unglaublich vielschichtiger Roman…! Mit großartigen Figurenzeichnungen, allein die wiederholten Begegnungen mit Ben sind ja schon von der „Choreographie“ her großartig (vor den Lastwagen gestolpert, vorbei getanzt, vor Schreck die Einkaufstüte fallen gelassen, er kehrt mit seiner Zeitung zusammen, großartig)

    Von den ideologischen Auseinandersetzungen der Zeit mag uns manches heute nichts mehr sagen, aber eine Einordnung in die Literaturgeschichte der DDR würde mich sehr interessieren. Oder auch der Blick einer Architektin/eines Architekten, von städteplanerisch Bewanderten: Hat die Architektur eines Wohnhauses, die Planung eines Stadtvierteils tatsächlich einen direkten Einfluss auf das Zusammenleben der Menschen? Gibt es da eine Verantwortung im moralischen Sinne? Ach, es gibt noch tausend andere mindestens ebenso interessante Fragen, über die man sprechen oder schreiben könnte! (Vielleicht sieht man mir deshalb nach, dass ich so arg viel geschrieben habe.)

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  11. Vor mir liegt die zweite DDR-Ausgabe von Franziska Linkerhand (1975), die ich nach den Tagebüchern der Autorin erneut mit großem Gewinn gelesen habe.
    Nun würde mich interessieren, woher die Information kommt, dass es ein vom Zensor hinzugefügtes Ende gibt?
    In meiner Ausgabe (wie gesagt DDR 1975) kann ich kein solches entdecken.

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  12. Ein paar Sätze zu den Fragen Anja Willners: „Hat die Architektur eines Wohnhauses, die Planung eines Stadtvierteils tatsächlich einen direkten Einfluss auf das Zusammenleben der Menschen? Gibt es da eine Verantwortung im moralischen Sinne? “

    Beide Sätze können mit einem klaren Ja beantwortet werden!
    In den sechziger/siebzigerJahren trat man in Ost und West, nach dem Räumen der Kriegsruinen in eine Phase, in der der Neu-Aufbau ganzer Stadtviertel auf dem Plan stand. Eine der wichtigsten Fragen war, auf welche Bedürfnisse sollte ein Wohnviertel, ein Stadtteil ausgerichtet sein – außerhalb der Grundfunktionalitäten „Wohnen-Schlafen-Essen“ ?
    Was konnte und musste der Neubau den sozialen Bedürfnissen der Menschen bieten, den Kindern, den Eltern, den Jugendlichen, den Großeltern?
    Diese Zeit vehementer Debatten habe ich selbst in den sechziger/siebzigern in West-Berlin erlebt, aufgrund der räumlichen Nähe aber auch gut in Ost-Berlin verfolgen können.
    Zwar hatte man im Osten den Vorteil, nicht wie im Westen auch den Städte- und Wohnungsbau dem Gewinnstreben von „Investoren“ unterordnen zu müssen und war auch nicht so stark dem Wahn der autogerechten Stadt erlegen.
    Was solche „Neubauhöllen“ im Westen mit den Menschen machen können, kann man gut in Gisela Elsners „Abseits“ verfolgen.
    Dagegen litt der DDR Städtebau neben unzureichenden Finanzen und volkswirtschaftlicher Produktivität, den zu geringen Ressourcen der Bauwirtschaft unter dem generellen DDR-Mangel der fehlenden demokratischen Diskussion, der Verknöcherung, des absurden Bürokratismus, des Zentralismus. Und der Unfähigkeit sich auf neue Ideen einzustellen, eines der zentralen Themen von Franziska und des ganzen Lebens der Brigitte Reimann.
    Hinzu kam, dass der „Große Bruder“, die Sowjetunion, wegen grundsätzlich anderer Bedingungen aber auch der durch den stalinistischen Terror vernichteten moderner Architekturströmungen, in keiner Weise hilfreich für die DDR sein konnte.
    Im Endeffekt wurde der Städtebau in beiden deutschen Staaten den sozialen Bedürfnissen der Menschen trotz mancher Ansätze viel zu wenig gerecht. Das Thema kann man gut nachlesen und vertiefen anhand des Buchs „Städtebau-Debatten in der DDR. Verborgene Reformdiskurse.
    Einer der Herausgeber ist der Weimarer Professor für Raumplanung und Raumforschung an der Bauhaus-Universität Weimar Max Welch Guerra.

    Noch ein kurzer Satz zu Franziska Linkerhand selbst:
    Mich haben neben der wütend-wollenden Architektin Franziska, der Stadtplanerin, der zerrissen suchenden Frau (so ähnlich der Autorin!) immer wieder die Sprachwunderperlen von Brigitte Reimann schwer beeindruckt.
    In einem ihrer ersten Romane, „Ankunft im Alltag“ (1961), den ich gerade gelesen habe, kann man wunderschön beobachten, wie sie in puncto Sprachschönheit und Personengestaltung für Franziska gerade zu übt.

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  13. Liebe Nicole, ich bin hier sicher zu spät, aber ich hoffe dringend, dass ich vom nächsten Lesekreis rechtzeitig höre. Deine Rezensionen und Kommentare finde ich immer wieder glänzend und inspirierend – umso mehr würde ich mich freuen, wenn es auch direktere Formen des Austauschs gäbe. Nicht nur, aber ganz besonders in Zeiten analoger Kontaktbeschränkungen! Liebe Grüße und alles Gute für 2021! Ruth

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