Kurz und knapp: Sommerlektüre

Ich empfehle: vier leichte Romane von Gewicht und zwei großartige Sachbücher

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Auch ich und Du, wir sind  nicht mehr und nicht weniger als ein Liebespaar in Saint-Tropez, das sich findet und auseinandergeht und die Forderung der Landschaft erfüllt. Sonderbar, wie sehr hier der Hintergrund Vordergrund wird, wie die Kulisse dominiert und die Menschen Staffagefigürchen werden. Ewig sind hier nur Dorf und Landschaft, vor denen sich die gleichen Gefühle immerwährend abspielen, auf die Träger kommt es nicht an. Da, wo ich aufhöre, spinnt ein anderer den Faden weiter, fängt eine andere den Ball wieder auf. Ist es wirklich so wichtig, ob Du wiederkommst?

Die einzige Erzählung von Helen Wolff (1906-1994) spielt in einem Sommer zwischen den Weltkriegen in der Provence und ist altmodisch und modern, ironisch und ernst, sinnlich und ein klein bisschen kitschig zugleich – eine Mischung, die mir zunehmend gefallen hat. Neugierig bin ich auf die Autorin geworden, die in den Dreißigerjahren in die USA emigrierte, dort zusammen mit ihrem Mann Kurt Wolff verschiedene Verlage leitete und in ihrer Erzählung autobiografische Erlebnisse verarbeitete, die vor dieser Zeit lagen. In dem Essay von Marion Detjen, der in der schönen, von Kat Menschik gestalteten Weidle-Ausgabe enthalten ist, bekommt man einen Eindruck von Helen Wolffs Leben, ihrer Liebe, ihrer Arbeit und ihrer Haltung. Marion Detjen:

Helen Wolff hatte selbst immer wieder Literatur, die nicht erfinde oder verwandle, die nicht ‚schöpferisch‘ sei, sondern Erlebtes und Vorgefundenes darstelle, als typisch weiblich, als sekundär und auf vertrackte Weise als literarisch minderwertig erklärt, auch wenn sie andere Qualitäten an ihr lobte.

Schwiiierig, möchte ich sagen, aber eben auch eine Einschätzung aus den frühen Sechzigerjahren, als man internalisierten Sexismus noch nicht breit reflektiert hat. Und weil mich auch gerade das interessiert, mache ich jetzt mit dem Briefwechsel von Helen Wolff und Hannah Arendt weiter, der in dem Band „Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen“: Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil-Mendelson und Helen Wolff  enthalten ist, erschienen im Piper Verlag.

Helen Wolff
Hintergrund für Liebe
Roman
Mit einem Essay von Marion Detjen zum Hintergrund des Hintergrunds
Weidle Verlag
216 Seiten
20 Euro

 

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Andrea ist Single, Ende dreißig und lebt in New York. Während ihre Freundinnen nach und nach Mütter werden, ist Kinderkriegen und Familie nicht ihr Ding. Auch ihr Job in einer Werbeagentur ist nicht so richtig ihr Ding. Was sie sehr mag: ihr kleines Apartment mit Blick auf das ferne Empire State Building, das sie jeden Abend zeichnet. Sie macht seltsame Männererfahrungen, nimmt Drogen, arbeitet, versinkt in Erinnerungen, trauert um ihren Vater und meidet den Kontakt zu ihrem Bruder, der eine todkranke kleine Tochter hat. Jamie Attenberg hat mit Andrea eine Antiheldin geschaffen, die von der Journalistin Miriam Zeh aus gutem Grund mit Fleabag, der gleichnamigen Protagonistin der Netflix-Serie, verglichen wurde. Ich war nicht von Anfang an begeistert, am Ende aber dafür sehr – von der nicht chronologischen, kreisenden Form der Erzählung, dem Ton und der Tiefe, die sich da zusehends auftut.

Es verunsichert mich immer für ein paar Tage, mit der persönlichen Wahrheit anderer konfrontiert zu sein. Dann laufe ich herum mit dem Gefühl, dass ich ihr Wesen trage wie einen engen Pullover. Bei Greta ist es ein Neoprenanzug. Es dauert eine Woche, bis ich mich endlich aus ihr herausschälen kann, doch eines Morgens wache ich nackt in meinem Apartment auf, und ich bin wieder ich, und sie ist weg. Keine Greta mehr, denke ich. Keine kranken Babys mehr, keine traurigen Brüder mehr, keine verlorenen Mütter mehr. Sie sind dort und ich bin hier. Ich bin frei. Und dann kaufe ich für Thanksgiving ein Zugticket Richtung Norden, weil sie mir alle so gottverdammt fehlen und wenn ich sie nicht bald wiedersehe, berühre und mit ihnen rede, überstehe ich dieses Leben nie.

Jami Attenberg
Nicht mein Ding
Roman
Aus dem Englischen von Barbara Christ
Schöffling Verlag
224 Seiten
22 Euro

 

 

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Mit dem Roman Ein bisschen Sonne im kalten Wasser, ursprünglich erschienen 1969, hat Françoise Sagan eine knappe Variation von Anna Karenina geschrieben, erzählt aus der Perspektive des Mannes. Gilles ist ein 35-jähriger, in Paris lebender Journalist, der anfangs depressiv ist, was er nur schwer akzeptieren kann. Um sich zu erholen, besucht er seine Schwester im Limousin und lernt dort die gleichaltrige verheiratete Nathalie kennen – und mehr will ich gar nicht verraten.

Françoise Sagan, die den Titel ihres achten Romans wieder bei Paul Éluard entlieh, hat mit ihrem Protagonisten Gilles ein Charakterporträt geschaffen, das so nachvollziehbar wie unschmeichelhaft ist. Eine sehr kurzweilige Lektüre, die ich mit Gewinn gelesen habe. Der Roman ist in der Neuübersetzung von Sophia Sonntag in einer wunderschön gestalteten Ausgabe bei der Bücherbilde Gutenberg erschienen (Mitgliedschaft erforderlich), sowie als Taschenbuch im btb Verlag.

Françoise Sagan
Ein bisschen Sonne im kalten Wasser
Roman
Aus dem Französischen in neuer Übersetzung von Sophia Sonntag
btb Verlag
272 Seiten
10,99 Euro

 

 

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Sehr viel Spaß hat mir der Roman Die wahre Geschichte der Effi B.  gemacht, in dem aus Sicht von Effi, ihrer Mutter und ihrer Tochter Anni erzählt wird, wie es auch gewesen sein könnte. Theodor Fontanes Effi Briest  habe ich zwar schon mehr als ein Mal gelesen, das ist aber länger her, und von den Anspielungen auf die Originalhandlung habe ich bestimmt einige verpasst. Sehr originell beschreibt Dorothea Keuler in ihrem kurzen Roman, wie das nämlich tatsächlich war, als Effis Mutter selbst ein junges Mädchen war und sich in Instetten verliebte, welche Verwicklungen sich daraus ergaben und was am Ende wirklich mit Major Crampas und mit Effi passiert ist. Die Geschichte wird zu einem wahren Kriminalfall, dessen Wendungen und Zufälle zwar nicht alle besonders wahrscheinlich sind, sich aber mit etwas Phantasie durchaus so zugetragen haben könnten. Ein großes Vergnügen, das bis in die Zwanzigerjahre reicht, in denen Anni mit Bubikopf im geliehenen Automobil nach Hinterpommern fährt, um den Rätseln nachzugehen, auf die sie gestoßen ist. Wer mag, kann es ja schlauer anfangen als ich, und vorher nochmal Effi Briest lesen …

Das Buch ist schon zwanzig Jahre alt und wurde leider nicht lieferbar gehalten, es ist aber auf allen gängigen Online-Plattformen (z.B. Medimops, ZVAB, bücher.de) zu sehr moderaten Preisen antiquarisch erhältlich.

Dorothea Keuler
Die wahre Geschichte der Effi B.
Roman
Als Haffmans-Hardcover und Piper-Taschenbuch antiquarisch erhältlich
240 Seiten

 

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Kate Kirkpatrick, der Autorin der neuen Beauvoir-Biografie, ist es ein Anliegen, Simone de Beauvoir endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie betrachtet sie für sich, nicht als Jean-Paul Sartres Muse oder Anhängsel, wie es oft geschehen ist. Immer wieder weist Kirkpatrick auf die originären Ideen der Philosophin hin, auf die (nicht nur biografischen) Hintergründe und Zusammenhänge. Was Beauvoir zum Thema Männer und Frauen geschrieben hat, zur Liebe, zum Alter, zur Mutterschaft, zu Misogynie, das ist so klug und vor allem: so zeitgemäß – es ist kaum zu glauben, dass ihr Hauptwerk, Das andere Geschlecht , schon 1949 erschien. (Oder andersrum: Es hat sich aufs Ganze gesehen eben doch wenig getan in Sachen Geschlechterbilder und in der Frage, wer wie zu sein hat und wofür zuständig sein sollte.) Außerdem hat Beauvoir ein reiches Leben geführt, mit mehreren großen Lieben, lebenslangen Freundschaften, vielen Reisen und beruflichen Erfolgen. Aber sie wurde auch gehasst, geschmäht und niedergeschrieben –  Le Monde meldete ihren Tod unter der Überschrift: „L’OEuvre: Une vulgarisation plus qu’une création“, als wäre ihr Werk zwar weit verbreitet, hätte aber eigentlich keinen Wert.

Kate Kirkpatrick erzählt all das sehr lesbar und macht einen unter Biograf*innen ziemlich verbreiteten Fehler nicht: Sie hält sich nicht erstmal kapitelweise mit den Vorfahren auf. Anfänglich waren mir ein bisschen viele Details aneinandergehängt, ohne dass eine Erzählung daraus wurde, das legt sich aber nach etwa einem Drittel, und insgesamt fand ich die Biografie hochinteressant und empfehle sie sehr. Die Lektüre hat allerdings Foglen: Ich habe jetzt hier mehrere Bücher von Beauvoir liegen, die ich unbedingt (wieder) lesen will.

Kate Kirkpatrick
Simone de Beauvoir
Ein modernes Leben

Aus dem Englischen von Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson
Piper Verlag
528 Seiten
25 Euro

 

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Torsten Körners In der Männer-Republik ist eine hochinteressante Geschichte der Bonner Republik, die anhand einiger herausragender Politikerinnen nachzeichnet, wie Frauen sich die Politik eroberten und wie die männlichen Mitglieder des Bundestags ihnen dabei begegneten. Es sind faszinierende Persönlichkeiten und Geschichten, die man hier kennenlernt. Welches enorme Maß an sexistischen Unflätigkeiten und Herabwürdigungen sich diese Frauen gefallen lassen mussten, wie groß das Männerbollwerk gegen die Bestrafung von Vergewaltigung in der Ehe, gegen die Änderung des Paragrafen 218 und andere Begehren der Politikerinnen war, das ist historisch hochinteressant und in den Details immer wieder kaum zu glauben. Von den Müttern des Grundgesetzes über Elisabeth Schwarzhaupt, Lenelotte von Bothmer, Waltraud Schoppe und Petra Kelly, Christa Nickels und Hildegard Hamm-Brücher bis hin zu Rita Süßmuth, Renate Schmidt und anderen zeichnet Torsten Körner faszinierende Porträts, die auch die Geschichte der Bundesrepublik und ihrer – männlichen – Hauptakteure aufscheinen lässt. Eine mitreißende Lektüre, die ich gerade auch den männlichen Lesern ans Herz legen möchte.

Torsten Körner
In der Männer-Republik
Wie Frauen die Politik eroberten
Kiepenheuer & Witsch
368 Seiten
22 Euro

 

 

 

 

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

4 Kommentare zu „Kurz und knapp: Sommerlektüre

  1. Danke für die guten Hinweise, liebe Nicole! Ich habe jetzt mehrere Bücher von E. Strout gelesen. Sie haben mir sehr gut gefallen- wunderbare Sprache und berührende Geschichten. Kommt gut durch den Sommer!

    Wolfgang

    Handy 0179 5907686 Von meinem iPhone gesendet

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