Kurz und knapp: Drei Romane und zwei Sachbücher

In den letzten Wochen haben mich drei Romane und zwei Sachbücher begeistert, vier davon noch neu, eins – Seitenwechsel von Nella Larsen – eine Wiederentdeckung des Dörlemann Verlags, die schon vor ein paar Jahren erschien, für mich aber neu war. In Kanada und in den USA ist der Februar unter der Überschrift Black History Month dem Beitrag der Afroamerikaner*innen zur amerikanischen Geschichte und Kultur gewidmet – für mich bisher ein sehr vernachlässigtes Gebiet. Das soll sich ändern.

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Jetzt schon eins meiner Highlights des neuen Lesejahres ist Die Berglöwin, ein Roman, der mich mit seiner stillen Wucht begeistert hat. Der Dörlemann Verlag hat das im Original 1947 erschienene Buch der Pulitzer-Preisträgerin Jean Stafford jetzt aus der Versenkung geholt und von Adelheid und Jürgen Dormagen neu übersetzen lassen. Letzterer hat außerdem ein ganz wunderbares Nachwort geschrieben. Wie Jean Stafford (1915-1979) hier die Erlebniswelten der heranwachsenden Geschwister Ralph und Molly beschreibt, Mollys Verstocktheit und Versponnenheit, ihre „stachelige Einsamkeit“ (J. Dormagen), Ralphs Empfindsamkeit, ihr gemeinsames Unverständnis für die Erwachsenen und deren Konventionalität, die Momente, in denen sich die Geschwisterbeziehung unaufhaltsam verändert – das ist amerikanischer Realismus vom Feinsten, subtil, klar und mit einem Ende, das mich total überrascht hat. Ein ganz großer Roman!

Jean Stafford
Die Berglöwin
Roman
Deutsch von Adelheid und Jürgen Dormagen
Dörlemann Verlag
352 Seiten
25 Euro

 

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Ebenfalls im Dörlemann Verlag ist schon vor Jahren einer der zwei Romane von Nella Larsen erschienen, einer New Yorker Autorin mit dänisch-karibischen Wurzeln, die von 1891 bis 1964 lebte und – wie Zora Neale Hurston, die ich zuletzt auf dem Blog vorgestellt habe – der Harlem Renaissance angehörte. In dem erstmals 1929 erschienenen Roman Seitenwechsel erzählt sie von der schwarzen Upperclass in Harlem und dem weißen Manhattan in den Zwanzigerjahren. Von zwei schwarzen Frauen, die sich seit der Kindheit kennen, hat eine „die Seiten gewechselt“ – sie ist so hellhäutig, dass sie leicht für eine Weiße gehalten wird, auch von ihrem rassistischen Mann. Als sich die beiden Frauen wiederbegegnen, gerät diese mit viel Aufwand und um einen hohen Preis errichtete Fassade ins Wanken.

Nella Larsen
Seitenwechsel
Roman
Deutsch von Adelheid Dormagen
Dörlemann Verlag
192 Seiten
20 Euro

 

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Korede ist Krankenschwester und außerdem einsame Spitze im Putzen. Sie bekommt jeden Fleck weg, und das ist auch gut so, denn als ihre Schwester Ayoola sie anruft und sagt „Korede, I killed him“ ist ihre Umsicht und ihr Knowhow gefragt. So beginnt der kurzweilige, gekonnt komponierte und sehr originelle Debütroman der Nigerianerin Oyinkan Braithwaite, der auf Englisch bereits erhältlich ist und am 10. März in der Übersetzung von Yasemin Dinçer auf deutsch im Blumenbar Verlag erscheint. Es geht um die Männer von Ayoola und ihren sehr speziellen Umgang mit ihnen, es geht aber genauso um die komplexe Beziehung der beiden Schwestern. Ein bisschen Krimi, ein bisschen Liebesgeschichte, ein bisschen Komödie – eine sehr gelungene Mischung.

Oyinkan Braithwaite
Meine Schwester, die Serienmörderin
Roman
Deutsch von Yasemin Dinger
Blumenbar Verlag
240 Seiten
20 Euro

 

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Bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten klafft eine Lücke, denn zumeist beziehen sich diese auf Männer, werden aber auf alle angewandt. Das ist für Frauen in vielen Zusammenhängen gefährlich. Zum Beispiel beim Bau von Autos. So werden nur in 20 Prozent der Fälle weibliche Crashtest-Dummys eingesetzt – und wenn, dann nur auf dem Beifahrer*innensitz. Fahrerinnen-Daten fehlen komplett. Als durchschnittlich kleinere Menschen können Frauen aber nicht die „Standard-Sitzposition“ einnehmen, was dazu führt, dass sie bei Frontalzusammenstößen größere innere Verletzungen erleiden und erheblich öfter sterben. Auch die Tatsache, dass es noch immer keinen Gurt für schwangere Frauen gibt, hat dramatische Folgen. Genau wie die falsche Dosierung von Medikamenten, weil auch für Frauenkörper passen muss, was für Männerkörper berechnet wurde. Oder unerkannte Herzinfarkte, weil die Symptome, die bei Frauen typisch sind, als „atypisch“ nicht erkannt werden.

Caroline Criado Perez hat viele weitere Beispiele aus der Politik, der Arbeitswelt oder den Medien, die verdeutlichen, dass Frauen schlicht immer noch in vielen Lebensbereichen unsichtbar sind. Sie schildert Zusammenhänge sachlich und nachvollziehbar und verweist auf zahlreiche dazugehörige Studien. Und sie kennt die Lösung: diversere Teams in Forschung und Design und die Erhebung geschlechtsspezifischer Daten. Ein Buch, das einen die Welt mit anderen Augen sehen lässt.

Caroline Criado-Perez
Unsichtbare Frauen
Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert
Deutsch von Stephanie Singh
btb Verlag
496 Seiten
15 Euro

 

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Letzteres gilt auch für dieses Buch, das auf kluge und persönliche Weise deutlich macht, wie sehr unsere Gesellschaft von rassistischen Grundannahmen durchzogen ist – interessant auch und gerade für alle, die sich bei dem Stichwort erstmal nicht angesprochen fühlen. Die in Deutschland geborene Alice Hasters erzählt von ihren Rassismus-Erfahrungen in der Schule, in der Familie, im Freundeskreis, in der Liebe – und ich bin extrem froh, ihr Buch gelesen zu haben, das ich am besten für sich selbst sprechen lasse:

„Das ist meine Auffassung von Rassismus: Er ist schon so lang und so massiv in unserer Geschichte, unserer Kultur und unserer Sprache verankert, hat unsere Weltsicht so sehr geprägt, dass wir gar nicht anders können, als in unserer heutigen Welt rassistische Denkmuster zu entwickeln. … Rassismus ist in unserem System. So sehr, dass er oft unbewusst geschieht – besonders der sogenannte Alltagsrassismus. … Wer vermeidet, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, kann sich immer mit unschuldiger Unwissenheit herausreden. Nur weil man sich nie bewusst Gedanken über Herkunft, Hautfarbe und Identität gemacht hat, läuft man nicht vorurteilsfrei durch die Gegend. Man bemerkt bloß nicht, dass man diese Vorurteile hat. … Vor allem ist es wichtig, eines zu verstehen: Es gibt keine Menschenrassen. Es gibt allerdings die Erfindung der Menschenrassen – die Rassifizierung. Sie dient dazu, eine Hierarchie zwischen Menschengruppen zu etablieren.“

Sehr zu empfehlen ist auch Alice Hasters’ halbstündiger Radio-Essay, der im Deutschlandfunk lief und hier nachzuhören ist.

Alice Hasters
Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten
Hanser blau
208 Seiten
17 Euro

 

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

2 Kommentare zu „Kurz und knapp: Drei Romane und zwei Sachbücher

  1. Bitte unbedingt das Buch „Wasserscheiden“ von Alfred DeMichele rezensieren! Das ultimative Buch zur derzeitigen Coronakrise und deren Folgen!

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