2. Nacht-und-Tag-Lesekreis: Margaret Atwood

Keine Vorabexemplare, Verschwiegenheitserklärungen der Ausgewählten, die den Roman schon vor Erscheinen lesen durften (aber nur im Verlagshaus), Mitternachtspartys zum Verkaufsstart und ein Interview mit der Autorin, das am Erstverkaufstag zeitgleich in 1.000 Kinos weltweit übertragen wurde. Ein Spektakel wie zum Erscheinen von Margaret Atwoods Roman Die Zeuginnen hat es wohl seit dem letzten Harry-Potter-Band nicht mehr gegeben. Nachdem in den USA ein Frauenverächter zum Präsidenten gewählt wurde und zeitgleich die Produktion der Fernsehserie The Handmaid’s Tale begann, wurde Der Report der Magd endgültig zum Welterfolg. Vierunddreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung erschien mit Die Zeuginnen nun die Fortsetzung. Die Erwartungen waren hoch – haben Sie sich erfüllt?

Die Zeuginnen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht vom Report der Magd, nicht zuletzt in Erzählweise und –tempo. Auch inhaltlich entwickelt es sich in eine andere Richtung. Der Report der Magd spielte in einer stabilen patriarchalen Diktatur, in der Frauen einer von mehreren Kasten angehören: Da sind die Mägde, die ausschließlich für die Fortpflanzung leben müssen. Die Marthas, die kochen und putzen. Da sind die braven Ehefrauen, die die anderen die Arbeit tun lassen und ggf. hinter den Kulissen intrigieren, darüber hinaus jedoch keine Macht haben. Und da sind die Tanten, überwiegend sehr gebildete, lebenserfahrene Frauen jenseits des gebärfähigen Alters, die die ihnen untergeordneten Frauen indoktrinieren und sie dazu bringen, sich in ihre Rollen zu fügen. Alle Kasten haben ihren Stolz, grenzen sich von den anderen ab und ziehen über sie her. Das war schon ein ziemlich böser Kommentar zu patriarchalen Gesellschaften wie unserer und dem Verhalten nicht zuletzt der Frauen – oder nicht? In Die Zeuginnen erleben wir die Geschichte nicht mehr aus Sicht einer Magd, sondern aus den Perspektiven der mächtigen Tante Lydia und von zwei Mädchen mit sehr unterschiedlichem Hintergrund. Während Der Report der Magd bei Erscheinen für krass und übertrieben gehalten wurde, wie die damaligen Kritiken zeigen, scheint mir Die Zeuginnen heute fast als zu positiv und optimistisch, bricht das System doch langsam zusammen, und die Frauen gelangen in die Freiheit. Oder wie seht Ihr das? Weiter geht es in den Kommentaren…

Noch ein Satz zum Ablauf: Meine Threads sind als Einstieg in die Diskussion gedacht, als Anregung oder Angebot, lasst Euch also bitte nicht einschränken: Wenn Ihr über andere Dinge sprechen wollt, tut das, ignoriert meine Fragen, eröffnet neue Threads, fragt, behauptet, diskutiert – ich bin gespannt!

 

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Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

21 Kommentare zu „2. Nacht-und-Tag-Lesekreis: Margaret Atwood

    1. Mich haben diese Unterschiede überrascht, aber ich fand sie total gut. Atwood hat sich mit der Form irgendwie der Zeit und den Seh- und Lesegewohnheiten angepasst. Die Zeuginnen lesen sich sehr viel gefälliger als der Report der Magd – den ich natürlich auch großartig finde, aber für mein Empfinden hat sie es genau richtig gemacht, nicht zu versuchen, etwas genauso zu reproduzieren, was vor über 30 Jahren entstanden ist.

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    1. Der Zeitablauf war der einzige Punkt im Buch, der mich etwas ratlos zurückgelassen hat. Die Rechnung, die ich dafür aufgestellt habe, lautet in etwa so: Der Zeitpunkt von Die Zeuginnen spielt 15 Jahre nach dem Report der Magd. Im Report der Magd erzählt Desfred, dass sie zum Zeitpunkt des systemischen Kollaps bereits ein kleines Kind hatte, zum Zeitpunkt des Reports ist sie aber noch fruchtbar. Daraus würde ich folgen, dass maximal zehn Jahre zwischen dem Umsturz und dem Report, ergo 25 Jahre zwischen Umsturz und Die Zeuginnen liegen. Dafür finde ich das System in sich zu kohärent. Wenn alle über, sagen wir mal, 30 sich mindestens noch dunkel an die USA, wie wir sie kennen, erinnern, dann erscheint es mir unlogisch, dass die circa zwei Generationen, die in Gilead geboren und aufgezogen wurden, schon keinerlei Ahnung mehr von den alten Umständen haben. Auch gemessen daran, dass die Vererbung von Traumata inzwischen nachgewiesen ist, fügen sich die Kinder und Jugendlichen meiner Ansicht nach alle zu stark ein; das System wird überhaupt nicht in Frage gestellt. Ich glaube, auch die unterdrückendste Diktatur kann das Trauma der Frauen, individuell wie kollektiv, nicht so verdrängen, dass ihre Nachkommen völlig ahnungslos alles hinnehmen, was ihnen ideologisch vorgesetzt wird. Bin sehr gespannt, wie ihr das seht!

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  1. Parallelen zur Realität – Atwood hat in Interviews gesagt, sie hätte gewissermaßen nichts erfunden, alles sei inspiriert von Dingen, die es so tatsächlich gibt auf der Welt, ob im Iran, in der DDR oder anderswo. Habt Ihr in den beiden Romanen auch Parallelen zur Gegenwart entdeckt?

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  2. Frauenrollen – Über die Kasten, in die Frauen in den Romanen eingeteilt werden, habe ich in meinem einleitenden Text schon geschrieben. Wie fandet Ihr es, dass die Hauptperson aus dem Report der Magd nun gar nicht mehr vorkam, auch die Mägde kaum noch eine Rolle spielen? Wie fandet Ihr überhaupt die Richtung, in die sich alles entwickelt? Wie versteht Ihr das Ende? Sisterhood prevails? Siegt das Matriarchat? Aber ist das zeitgemäß? Herrscht heute nicht viel mehr Grund zur Beunruhigung? Ist der Erstling insofern nicht viel schärfer und klarer gewesen und dieser neue Roman gewissermaßen seichter fälschlich beruhigend?

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    1. Kam die Magd aus dem Report nicht am Ende vor, als Mutter der beiden Protagonistinnen? Zwar bieten das Ende des Reports und die Geschichte in Die Zeuginnen viel Interpretationsspielraum, aber ich habe es so gelesen, dass Desfred schwanger flüchten kann (das war ja im Report nur angedeutet, beziehungsweise unklar, ob sie flüchtet oder festgenommen wird) und ihr Kind in Kanada auf die Welt bringt, wo sie unerkannt aufwächst. Daher stammt die Zeitrechnung, dass 15 Jahre vergangen sind – weil Daisy aka Jade aka Nicole so alt ist. Die zweite Erzählerin ist wiederum die Tochter, die Desfred bei der Flucht weggenommen wurde. Auf der letzten Seite der Zeuginnenaussage taucht sie dann auf, um ihre Töchter zu begrüßen und den erzählerischen Kreis zu schließen. So zumindest meine Interpretation.

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      1. Ja, so habe ich das auch verstanden. Und das ist auch meine einzige Kritik am Roman: MIr ist das ein bißchen viel Schwesternschaft und Zufall, der dann doch (womöglich?) zum Guten führt.

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      2. Beim Thema Zufall (oder sogar Glück) gebe ich dir auf jeden Fall recht. Es verläuft auch alles so wahnsinnig reibungslos, sowohl wie die Mädchen nach Gilead kommen als auch wieder zurück. Da hätte es für meinen Geschmack ruhig mehr Opfer, Probleme, Hindernisse geben dürfen, es ist schließlich ein totalitärer Staat, der ja auch sonst keine Gnade kennt. Zwar hätte das vermutlich den Rahmen gesprengt, aber ein bisschen mehr Reibung hätte da ruhig sein dürfen. Allerdings ist die Handlung durch die Erzählstile, also die Memoiren und die Zeuginnenaussagen, auch nachvollziehbar und schlüssig komprimiert; die Retrospektive verkürzt natürlich manches. Ein bisschen weniger Glätte, weniger Glück hätte ich trotzdem spannender gefunden.

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    1. Ja… tun sie. Ich finde, Buch und Serie ergänzen sich recht gut. Mal abgesehen von ein paar kleineren Details (ich weiß nicht, ob man hier spoilern sollte, deshalb lass ich das erstmal). Da Margaret Atwood an der Serie beteiligt war bzw. ist, macht das auch Sinn. Die Serie ist übrigens großartig und ich kann sie unbedingt empfehlen!

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  3. Ich habe beide Bücher im Oktober direkt hintereinander gelesen. Ja, sie sind wirklich verschieden, aber für mich war die Story so schlüssig. Auch die Abwechslung, die in den Zeuginnen durch die wechselnden Erzählperspektiven entstand, mochte ich sehr. Die Auszüge aus dem Vortrag zum Schluss hätte ich nicht benötigt, fand das sogar eher seltsam, weil ich mir als Leser ja selbstverständlich selbst sus heutiger Sicht Gedanken zu den Berichten mache und mich frage, welche Parallelen es zur Jetztzeit geben könnte und ob ein Gilead nochmal möglich wäre. Parallelen zu heute sehe ich z. B. darin, dass es Gesellschaftssysteme, in denen wenige viele unterdrücken nach wie vor gibt, die geringere Wertigkeit von Frauen ist auch noch nicht aus allen Köpfen heraus, die wachsende Skrupellosigkeit im Umgang mit anderen und das, was mediale Durchdringung/Überwachung/Kontrolle betrifft, sind auch keine unbekannten/rein fiktiven Punkte.
    Die Serie habe ich noch nicht gesehen, möchte ich aber noch tun.

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  4. Was mich ein wenig ärgert: sie hat mit dieser Fortsetzung den Man Booker gewonnen, das Buch funktioniert aber meiner Meinung nach nur wegen des ersten Bandes so gut. Es ist kein Standalone, es steht nicht auf eigenen Füßen…

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    1. Aber muss es das unbedingt? Ich finde die Balance aus Neuem, aus Überraschendem sowie der Auflösung offener Fragen aus dem Report sehr gut gelungen. Ob der Gesamtzusammenhang auch ohne das erste Buch nachvollziehbar ist, können wir kaum rausfinden, wo wir doch alle zuerst den Report gelesen haben.

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  5. Hallo in die Runde, Ich habe das Buch sehr gemocht, gerade weil sie – wie hier schon erwähnt – nicht den Fehler macht, etwas wiederholen zu wollen, sondern sich aus anderer Sicht an die Geschichte wagt. Meine klare Favoritin ist hier Tante Lydia – die Figur wird durch den zweiten Teil noch deutlich vielschichtiger und interessanter, finde ich. Und da ist direkt mein Übergang zur Serie, die ich sehr begeistert geschaut habe, denn ich finde sie grandios umgesetzt. Es gibt m.E. keine zweite Serie, die so eine Bildästhetik umsetzt und die Musik dazu ist großartig, ebenso die Besetzung der Hauptrollen – bspw. den Kommandanten finde ich in der Serie sogar noch wesentlich interessanter als im Buch. Warum Serie und Buch zugleich funktionieren, das liegt, so denke ich daran, dass Atwood im Buch einen ganz anderen Fokus wählt und auch zeitlich anders einsetzt. Während die Serie linear weitererzählt, gibt es hier ja den erwähnten Zeitsprung und dadurch bleibt die Sache meiner Meinung nach rund. Übrigens: DIe Serienadaption von Atwoods „Alias Grace“ (Netflix) finde ich auch sehr gelungen!

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    1. Das macht mich jetzt sehr neugierig, werde dann auch mal anfangen mit der Serie… Ich fand Tante Lydia in DIE ZEUGINNEN auch bei weitem die interessanteste Figur, habe mich mit den beiden Mädchen ein kleines bisschen schwer getan, jedenfalls am Anfang.

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      1. Mich hat das jetzt auch überzeugt, hab grade die erste Staffel bestellt! Mein Hauptproblem mit den zwei Mädchen war vor allem, dass ich anfangs so aufgeregt die Geschichte verschlungen habe, dass mir das A und das B hinter der Zeuginnenaussage nicht aufgefallen ist … ich dachte also, es wäre nur ein Mädchen, das da berichtet. Das war extrem verwirrend, und es hat bestimmt 50 Seiten gedauert, bis ich das kapiert habe. Danach musste ich immer wieder zurückblättern, um meinen Kopf umzuordnen und das bisher Gelesene neu zusammenzufügen.
        Zu Tante Lydia: Ihre Figur bietet immens viel Interpretationsspielraum. So könnte man ihre frühe Entwicklung zum Beispiel als Kritik an Frauen lesen, die es vor allem dadurch in hohe Positionen schaffen, indem sie sich den Spielregeln des Patriarchats unterwerfen, sich zu Verbündeten von Männern machen und andere Frauen vor den sprichwörtlichen Bus werfen (oder eben erschießen). Später nutzt sie ihre Macht, um das patriarchale theokratische System von innen zu torpedieren – und es stellt sich die Frage, ob es die Morde an den anderen Frauen wert war. Ist es legitim, den „Marsch durch die Institutionen“ zu gehen, einzelne Frauen dabei zu opfern, um das gesamte Geschlecht möglicherweise zu befreien? Diese Grundsatzfragen so klug an einer Figur aufzuzeigen, das unglaubliche Dilemma dahinter, das ist schon ganz große Kunst.

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    2. Mir war zwar schnell klar, dass es zwei sein sollen, Bücherwurmin, ich hab aber trotzdem ein bisschen gebraucht, um sie unterscheiden zu können und mich zurechtzufinden. Und das mit Tante Lydia dachte ich ganz genauso und finde das auch brillant gemacht. Weil letztlich ja auch nicht geurteilt wird über ihr Verhalten, sondern vorgeführt wird, dass man in totalitären und frauenverachtenden Systemen eben kaum eine andere Möglichkeit hat, als seine Entscheidungen den herrschenden Optionen anzupassen, zumindest vermeintlich. Atwood ist großartig. Und nachdem sie leider den Nobelpreis wieder nicht bekommen hat, freu ich mich sehr über den Booker für sie. Zumal THE HANDMAID’S TALE bei Erscheinen offenbar längst nicht den Erfolg und die guten Kritiken hatte wie heute.

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      1. Das führt jetzt vermutlich zu weit weg vom Thema, aber: Dass jemand mit einem Œuvre wie Atwood keinen Nobelpreis hat, jemand wie Handke aber schon, macht mich immer noch so wütend, dass ich nur hoffen kann, dass Die Zeuginnen möglichst viele Frauen so radikalisiert, dass sie sich in Zukunft noch stärker gegen diese patriarchalen Strukturen wie die der Akadamie auflehnen, bis sich endlich in der Kultur etwas verändert.

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