Meisterhafte Beschreibungen der Liebe

… finden sich in den frisch erschienenen Romanen von Julian Barnes und Daniela Krien. Die einzige Geschichte und Die Liebe im Ernstfall sind zwei Highlights dieses Bücherfrühlings, die sich niemand entgehen lassen sollte. Für mich beides jetzt schon Lieblingsbücher.

Jeder Mensch hat seine Liebesgeschichte. Jeder. Vielleicht war sie eine Katastrophe, vielleicht ist sie im Sande verlaufen, vielleicht ist sie gar nicht richtig in Gang gekommen, vielleicht gab es sie nur in Gedanken, das macht sie nicht weniger real. Manchmal macht es sie noch realer. […] Jeder Mensch hat eine. Es ist die einzige Geschichte.

Ich hätte keine Schwierigkeiten, hier zehn Zitate aus Julian Barnes‘ Die einzige Geschichte zu bringen, die ich großartig finde – über die Ungreifbarkeit des Vergangenen, über den Rausch des Liebens und die Folgen, die er für das ganze Leben haben kann, über Entscheidungen, von denen man nie wissen wird, ob sie richtig oder falsch waren. Die Geschichte des Erzählers, Paul, nimmt jedenfalls eine Wendung, die er nicht vorhergesehen hat. Er erholt sich sein Leben lang nicht mehr von seiner einzigen Geschichte, die er so sorglos, so überlegen begonnen hatte, und er kann nicht aufhören über sie nachzudenken, zu versuchen, sich einen Reim darauf zu machen. Immer wieder fragt er sich: Ist er verantwortlich für das, was geschah? Kann er sich auf seine Jugend berufen? Hätten sie einen anderen Weg nehmen, ihre Liebe nicht leben sollen?

Er überflog ein paar durchgestrichene Einträge, dann legte er das Notizbuch in die Schublade zurück. Vielleicht war das alles nur Zeitverschwendung gewesen. Vielleicht war die Liebe niemals in einer Definition zu erfassen; sie war überhaupt nur in einer Geschichte zu erfassen.

In diesem Roman, aus dem Englischen übersetzt von Gertraude Krueger, hat Barnes sie auf jeden Fall zu fassen bekommen. Und wie schon in Vom Ende einer Geschichte  erweist er sich auch hier wieder als Meister der Dramaturgie: der letzte Satz des ersten Teils – wunderbar! Mich hat dieses Buch sehr berührt, eine Meditation über das Werden und Vergehen der Liebe, so klug und sensibel, so traurig, schön und wahr, wie es nur Julian Barnes versteht.

*

Daniela Krien gehört für mich im Moment zu den interessantesten Autorinnen deutscher Sprache, zusammen mit Mareike Krügel, Anke Stelling und Julia Jessen, denn ihnen allen gelingt es, etwas einzufangen, was ich vorher so über die Generation der heute um die Vierzigjährigen noch nicht gelesen hatte: wie es ist und was es bedeutet, mit den Möglichkeiten und Freiheiten, die wir heute haben, aber auch mit den damit einhergehenden Erwartungen und Ansprüchen an uns selbst und andere, Kinder zu haben, berufstätig zu sein, in einer Beziehung zu bleiben oder – manchmal mitsamt den Kindern – eine neue einzugehen. Was Daniela Krien dabei einmalig macht: Das tiefe Empfinden ihrer Figuren, ihre komplexen, wahrhaftigen Protagonistinnen.

Paula, Brida und die anderen drei Perspektivträgerinnen dieses schmalen Romans, denen jeweils ein Kapitel gehört, wollen auch nach den ersten Dämpfern und Tiefschlägen noch viel vom Leben. Sie sind sinnlich, und das, wie auch schon die siebzehnjährige Protagonistin von Kriens erstem Roman Irgendwann werden wir uns alles erzählen auf eine ganz eigene, von gesellschaftlichen Konventionen unkorrumpierte Art. Sex – vielleicht so schwer zu beschreiben wie nichts sonst und deshalb oft ausgelassen – kommt bei Kriens Figuren als zentraler Bestandteil des Lebens und der Liebe vor, mitsamt seinen dunkleren Seiten.

Die Liebe im Ernstfall ist eine Art Reigen, eine Figur führt zur nächsten. So erzählt das zweite Kapitel von Paulas bester Freundin, das dritte von einer Patientin dieser Freundin. Es sind Frauen, die sich für oder gegen Kinder entschieden haben, die verheiratet sind, Geliebte, allein oder auf der Suche; die ihre Arbeit lieben, die hadern, leiden, genießen, sich arrangieren. Daniela Krien beherrscht ihr Handwerk, was zum Beispiel daran deutlich wird, wie souverän sie auf gut 50 Seiten pro Figur spannungsreich ein ganzes Leben auffächert, wie sie diese Figuren noch dadurch anreichert, dass wir ihnen später aus anderer Perspektive wiederbegegnen. Aber sie beherrscht nicht nur ihr Handwerk. Wie Krien ihre Figuren in ihrer Unterschiedlichkeit eine nach der anderen lebendig werden lässt, mit ihrem Lebensgefühl und ihren Sehnsüchten, das ist große Kunst. Mehr davon!

Nicole Seifert

Daniela Krien
Die Liebe im Ernstfall
Roman
Diogenes
288 Seiten
22 Euro

Julian Barnes
Die einzige Geschichte
Roman
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Kiepenheuer & Witsch
304 Seiten
22 Euro

 

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

6 Kommentare zu „Meisterhafte Beschreibungen der Liebe

  1. Vielen Dank für diese beiden neuen Buchempfehlungen, die beide bzw. auch die weiter genannten auf meine Leseliste kommen!
    Übrigens auch vielen Dank für die angekommenen Postkarten! Ich verteile sie viel und gern an die Kunden von VIELSEITIG!
    Herzlichst, Kristine Westphal

    Gefällt 1 Person

  2. Hallo,

    von Julian Barnes habe ich noch nichts gelesen – aber immerhin schon mal sein „Vom Ende einer Geschichte“ aus dem öffentlichen Bücherschrank gefischt… „Die einzige Geschichte“ habe ich jetzt auch in meinem Buchjournal unter „Bald lesen“ eingetragen.

    Als Angehörige der Generation über vierzig sollte ich dann auch Daniela Krien näher ins Auge fassen! Auch wenn ich nicht ganz ins Schema passe, da ich weder Kinder habe noch berufstätig bin (Frührente)…

    LG,
    Mikka

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