Der Nacht-und-Tag-Lesekreis

Erstes Buch:  Frau im Dunkeln von Elena Ferrante

(Roman, Aus dem Italienischen von Anja Nattefort, Suhrkamp, 188 Seiten, 22 Euro)

Die Idee

Es gibt Bücher, die lassen einen mit Gesprächsbedarf zurück, sei es weil das Gefühl bleibt, dass sich Zusammenhänge nicht erschlossen haben, sei es, weil das Ende Fragen aufwirft, oder weil es um besonders kontroverse Themen ging. Solche Bücher möchte ich aussuchen für den Nacht-und-Tag-Online-Lesekreis. Von den Büchern, die ich auf dem Blog bisher besprochen habe, hätte sich zum Beispiel Asymmetrie von Lisa Halliday geeignet oder Die polyglotten Liebhaber von Lina Wolff, beides Bücher, die mich nach dem ersten Lesen aus unterschiedlichen Gründen erstmal etwas ratlos gemacht haben. Bei solchen Romanen ist es ein Gewinn, sich mit anderen Leser*innen auszutauschen. Bestimmt entdecken wir gemeinsam neue Zusammenhänge und Lesarten. Ich bin gespannt…

Das Buch

Elena Ferrantes Frau im Dunkeln ist ein schmaler, motivisch dichter und atmosphärisch intensiver Roman, dessen Thema in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch tabu ist. Es geht um die Überforderungen des Mutterseins und die daraus resultierenden Bedürfnisse: Was, wenn das Gefühl der Selbstaufgabe bei aller Liebe zu den Kindern unerträgliche Ausmaße annimmt? Eine hochinteressante Frage, gerade für deutsche Leser*innen, ist der Muttermythos bei uns doch ideologisch in einem Maße aufgeladen wie in keinem anderen westlichen Land (wen das genauer interessiert, dem empfehle ich Barbara Vinkens Buch Die deutsche Mutter, Der lange Schatten eines Mythos).

Im Original 2006 erschienen, also vor der vierbändigen neapolitanischen Saga, ist Frau im Dunkeln Ferrantes dritter Roman und der Autorin zufolge der, dem sie „am schmerzhaftesten verbunden ist“. Die Ich-Erzählerin Leda ist eine in Florenz lebende gebürtige Neapolitanerin Mitte vierzig. Sie lehrt an der Uni englische Literatur und ist geschieden, ihre beiden Töchter leben neuerdings bei ihrem Vater in Kanada. Leda fürchtet, sich während der Semesterferien einsam zu fühlen, unter großer Sehnsucht zu leiden, stellt dann aber überrascht fest, dass sie sich vor allem frei fühlt. Frei, zu tun, was sie will.

Niemand war mehr von meiner Fürsorge abhängig, und auch ich selbst war mir endlich keine Last mehr. (18)

Sie mietet sich ein Apartment in einem kleinen italienischen Küstenort und freut sich auf zwei, drei Monate Lesen und Arbeiten unterm Sonnenschirm, mit Blick aufs Meer. Nach ein paar idyllischen, ruhigen Tagen ändert sich jedoch Atmosphäre. Am Strand bekommt Leda es mit einer Familie zu tun, die sehr dominant ist, sogar etwas Bedrohliches hat. Ein zunächst scheinbar unbedeutender Vorfall konfrontiert Leda mit ihrer Vergangenheit und den unkonventionellen, bis in die Gegenwart hineinreichenden Entscheidungen, die sie als Mutter getroffen hat.

Die Dinge, die wir selbst nicht verstehen, sind am schwierigsten zu erzählen. (8)

Radikal offen erforscht Ferrante die Ambivalenzen des Mutterseins. Dabei wechseln sich introspektive Passagen mit solchen ab, die einem Psychothriller alle Ehre machen würden. – Eine gelungene Mischung?

Ablauf der Leserunde

Da diese Runde ein erster Versuch ist, müssen wir alles ein bisschen ausprobieren. Für Verbesserungsvorschläge und Feedback jeder Art wäre ich Euch dankbar. Ich werde versuchen, die Diskussion in Themen zu gliedern, damit es auch für alle, die neu dazu kommen, übersichtlich bleibt. Ihr seid aber natürlich vollkommen frei, weitere Threads zu eröffnen, Fragen zu stellen und Themen anzusprechen. Macht mit, ergänzt, fragt, diskutiert – ich freu mich drauf!

>>> Diskussion in den Kommentaren >>>

 

Veröffentlicht von

Nacht und Tag Literaturblog

Leserin, Autorin, Übersetzerin

33 Kommentare zu „Der Nacht-und-Tag-Lesekreis

    1. Die schonungslose Darstellung der Mutter-Tochter-Beziehung finde ich absolut gelungen. Sie wirkt authentisch. Interessant ist, dass es diesen Fokus weit vor der neapolitanischen Saga schon gibt.

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    2. So, jetzt ausgelesen. Danke für die Einladung zum gemeinsamen Lesen!
      Ich mochte an dem Buch die beklemmende Atmosphäre. Dieses permanent drohende Unheil. Auch den Aufbau fand ich gelungen, die Rückblenden, viele Beobachtungen und Gedanken zum Thema Mutterschaft.
      Was mir zunehmend schwerfiel, war, die Hauptfigur Leda ernst zu nehmen. Vor allem, nachdem man mitbekommt, wie mies sie sich seinerzeit ihren kleinen Töchtern gegenüber verhalten hat, kommt sie einem neurotisch und unreif vor. Aber vielleicht hat Ferrante das auch bewußt so angelegt. Die Identifikation darf auch mal wehtun. Und Protagonisten brauchen weiß Gott nicht nett zu sein. 🙂

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    3. Ich habe das dringende Bedürfnis, mit meiner eigenen Mutter bei Fisch und Wein darüber zu sprechen, wer sie vor ihren beiden Töchtern war und wer sie jetzt ist, unabhängig von meiner Schwester und mir.

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  1. Jetzt mit dem Kopf: Denkanstöße, Diskussionsanreize, Details:

    DIE NEAPOLITANISCHE FAMILIE: Als die Großfamilie am Strand auftaucht und Leda sie beobachtet, verrät das viel über Ledas Selbstbild zu Beginn der Handlung. Wie lernen wir sie kennen?

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    1. Wir lernen Leda kennen als eine Frau, die unbedingt ihre (einfache, neapolitanische) Herkunft hinter sich lassen will. Eine Frau, die sich selbst gerne als kultivierte, beherrschte, emotional unabhängige Intellektuelle sieht – und die das alles aber nicht ist.

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      1. Ihr Verhalten erinnerte mich stark an Didier Eribon in „Rückkehr nach Reims“ und vor allem in „Gesellschaft als Urteil“. Gerade ihr Aufstieg aus ärmeren Verhältnissen in ein intellektuelleres Milieu lässt sie viele Verhaltensweisen hassen, die sie an ihr früheres Selbst erinnern, da bin ich ganz bei dir. Ich würde aber gar nicht sagen, dass sie weder kultiviert noch intellektuell ist. Diese Seiten an sich kommen seit dem akademischen Befreiungsschlag durch den sie zitierenden Professor in London durchaus zum Vorschein und waren unter anderem auch Gründe für ihre Flucht. Aber, und da wäre ich wieder bei dir: Ihr Weglaufen von den Kindern hin zu diesem intellektuellen Ich scheitert letztendlich. Meine Interpretation würde eher in die Richtung gehen, dass dieses Scheitern zeigt, dass sie als gebildete junge Mutter eben beides ist. Ihr Mutterjob macht sie unglücklich, aber die akademische Welt allein macht sie auch nicht glücklich. Frauen sind eben mehr als ein entweder-oder, mehr als Supermutter oder Karrierefrau, sie sind hochkomplex und vielschichtig.

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  2. NINA: Zu ihrer Antagonistin Nina hat Elena ein ambivalentes Verhältnis. Wie reagiert sie auf Ninas liebevollen Umgang mit Elena? Wie kommt es, dass sie ihr anvertraut, ihre Töchter verlassen zu haben? Was ist Euch sonst zum Verhältnis der beiden aufgefallen?

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    1. Ich denke, die Faszination für Nina liegt in den Parallelen, die sie zu ihrem (vergangenen) Leben erkennt und die sie gleichermaßen abstoßen. Sehnsucht und Ablehnung führen vielleicht zu dieser von dir angesprochenen Ambivalenz.
      Ihr Geständnis hat mich ebenso fragend zurückgelassen. Manchmal ist es leichter, mit einer Fremden zu sprechen. Es wirkte allerdings nicht wie ein Vertrauensbeweis, sondern sie empfand aus meiner Sicht Genugtuung bei diesem Sprechakt, der Selbst- und Fremdwahrnehmung annähert.

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    2. Die Faszination für Nina entspringt aus meiner Sicht der Ambivalenz zwischen Sehnsucht und Ablehnung. Leda erkennt Parallelen zu ihrem eigenen (vergangenen) Leben, die sie teilweise abstoßen.
      Ihr Geständnis wirkt weniger wie ein Vertrauensbeweis. Es hat mich fragend zurückgelassen. Wollte sie Fremdbild gerade rücken? Sollte Nina sie ablehnen oder neidisch sein?

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    3. Mir ist aufgefallen, das bei der Hauptfigur Leda die Rollen Mutter-Frau-Tochter scheinbar völlig unabgegrenzt ineinanderfließen. Das kann sie alles gar nicht auseinanderhalten. Insofern sieht sie auch in Nina mal das beneidete Vorbild (in Sachen Mutterschaft), mal das jüngere Alter Ego, mal das Trophy Wife im goldenen Käfig, mal eine verhasste Konkurrentin (zB um die Gunst von Gino).

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      1. Finde ich eine sehr schöne Beobachtung, die ich so noch nicht gemacht hatte. Leda kommt mit ihren Rollen nicht klar, die ja aber auch konkurrieren und sehr widersprüchliche, hohe Ansprüche an sie (wie an jede Frau) stellen. Das ist Teil von Ledas Überforderung: alles zusammen ging nicht, deshalb ist sie weggegangen. Nur um festzustellen: Man kann nicht mehr nur die Intellektuelle und / oder Geliebte sein, wenn die Kinder schon da sind, auch wenn man sie verlassen hat. Also ist sie zurückgekehrt, versucht wieder alles zu sein und wieder zeigt sich die Unmöglichkeit. – So?

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      2. Ja ungefähr so. Mit dem Begriff „frantumaglia“ (Scherbenhaufen) umschreibt Leda am Ende des Buches das weibliche Rollen-Durcheinander aber auch selbst ganz gut. Und sie behauptet im letzten Dialog mit Nina sogar, es sei möglich, mit dieser Überforderung trotzdem zurecht zu kommen.
        Doch auch das ist meiner Meinung nach bei Leda eher Wunschdenken, darauf verweist die gesamte Handlung des Buches, der Puppendiebstahl, ihre mehr als angeknackste Psyche.

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    1. Ehrlich gesagt, war mir die Passage mit dem Schwall dunklen Wassers, welchen die Puppe Leda „entgegenspuckt“ fast ein bisschen dick aufgetragen.
      Doch den Puppen-Diebstahl fand ich ansonsten sehr gelungen. Wie unsicher Leda ist und wie sie zwischen Neid und Wehmut schwankt, wenn sie an ihre eigene Kindheit sowie Mutterschaft erinnert wird, wird durch ihr Verhalten der Puppe gegenüber gezeigt. Die Puppe ist das Symbol für alles, was sie selbst nicht bekommen hat. Und was sie selbst nicht geben konnte.

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      1. Kann ich verstehen, das kommt sehr symbolisch daher, auch wenn es nachher noch realistisch erklärt wird. Mir fiel eine Parallele zu einer anderen Textstelle auf, die ich jetzt so schnell nicht finde, aber irgendwo ist von dem schwarzen Brunnen die Rede, aus dem Leda gekommen ist. Sie will mit Neapel und ihrer Ursprungsfamilie ja nicht mehr verwechselt werden, aber die Puppe zeigt ihr ihre dunkelste Seite.

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  3. MUTTER-TOCHTER-VERHÄLTNISSE: Im Roman gibt es einige davon – Leda und ihre Töchter, Leda und ihre Mutter, Nina und Elena, Elena und ihre Puppe, Leda und die Puppe. So wird Vieles gespiegelt, man erfährt durch das eine Verhältnis etwas über andere. Was ist Euch dazu aufgefallen?

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  4. GEWALT: Es gibt einige gewaltsame Vorfälle im Roman. Da ist z.B. der Pinienzapfen, der Leda am Rücken trifft (Absicht oder Unfall?), später greift Nina Leda mit der Hutnadel an, die sie ihr gerade geschenkt hat. Was fällt Euch noch ein, und was bedeutet die Häufung dieser gewaltsamen Vorfälle Eurer Meinung nach für den Roman?

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    1. Die Gewaltszenen im Buch finde ich erschreckend, weil sie recht belanglos und subtil, aber gleichzeitig so beherrscht erscheinen. Die Situation, die sich mir am stärksten eingeprägt hat, ist die, als sie eine ihre Töchter angeblich leicht, aber beharrlich mit den Fingerspitzen schlägt. Vor allem, dass die Tochter anfangs denkt, es sei noch Spaß und Spiel, und gar nicht merkt, dass ihre Mutter es gerade in Kauf nimmt, sie zu verletzen, berührt. Und dennoch gipfelt diese „kontrollierte“ Gewalt in der plötzlichen, unvorhersehbaren Eskalation des Zerspringen des Milchglases in der Tür, womit wir auch wieder beim „Scherbenhaufen“ wären.

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  5. MUTTERSCHAFT: Das Hauptthema des Romans. Was genau sind für Leda die Ängste und Überforderungen des Mutterseins? Was ist das Positive, mit dem Mutterschaft im Roman assoziiert wird? Was hat Leda so traumatisiert, dass sie ihre Familie damals verlassen hat? Was hat sie gesucht? Warum ist sie zurückgekommen?

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    1. Das ist aus meiner Sicht das stärkste Motiv des Romans und weit vor der Debatte um regrettingmotherhood formuliert. Leda ist überfordert, fremdbestimmt, gefangen zwischen der Liebe zu ihren Töchtern und dem starken Wunsch nach Selbstverwirklichung. Alles Gesagte ist klug und nachvollziehbar, auch wenn das Verlassen der eigenen Kinder noch immer ein Tabubruch darstellt. Es zwickt einen beim Lesen. Als sie anmerkt, dass sie aus Eigenliebe zurückgekehrt sei, hat Leda mich endgültig auf ihre Seite gezogen. Diese grenzenlose Offenheit ist bestechend.

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      1. Tatsächlich? Ich fand diese „selbstkritischen“ Erklärungsversuche, warum sie wieder zurückgekehrt ist, reichlich selbstmitleidig und vorgeschoben. Und dass, nachdem sie volle drei Jahre, wie sie selbst sagt, ihre Töchter nicht ein einziges Mal vermisst hat. Come on…

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    2. Naja, sie stört sich an der Fremdbestimmung. Am Gefühl, ausgesaugt zu werden. Daran, nicht mehr die gleichen Chancen zu haben im Wissenschaftsbetrieb. Zumindest hier im Buch wird auch dem italienischen Kult um die „bambini“ eine Mitschuld an Ledas Elend gegeben. In den anfänglichen Begegnungen von Leda mit Nina und ihrer kleinen Tochter wird deutlich, was Leda für eine gelungene Mutterschaft hält – ihr Ideal quasi: Unbeschwertes Glück beim Spiel, ungezwungene Nähe zwischen Mutter und Tochter. All das, was sie als Kind nicht erlebt hat und als Mutter auch selbst nicht geben konnte.

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  6. DAS ENDE: Habt Ihr in Erinnerung behalten, dass der Roman mit einem Unfall und Ledas Aufwachen im Krankenhaus beginnt, dass also alles in der Rückblende erzählt wird? Wie versteht Ihr den Anfang, nachdem Ihr den Roman kennt? Und schließlich: Wie seht Ihr Leda jetzt? Welcher Eindruck bleibt für Euch am Ende des Romans? Hat er Antworten gegeben? Neue Fragen aufgeworfen?

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      1. Ich habe Slimani nicht gelesen. Bücher dieser Art kann ich aktuell nur schwer lesen, die kosten mich (zumindest noch) zuviel emotionale Energie. Aber höchstwahrscheinlich ein gutes Buch, wenn der Nachwuchs erwachsen ist…

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    1. Zum Unfall: Ich mochte die Klammer zum Anfangsbild, sie hat das Buch schön abgerundet. Aber einen Wahnsinns-Twist gab es nicht, oder hab ich da was überlesen? :-/

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    2. Ich finde die Klammer zwischen Anfang und Ende zwar ganz gut – aber durch den Hinweis auf die Stichverletzung am Anfang war mir bereits auf dem Flohmarkt, auf dem sie die Hutnadel entdeckt, klar, wie das Ganze enden würde. Sozusagen ein integrierter Spoiler. Da wäre mehr gegangen, finde ich.

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  7. Mir gefällt die Idee sehr, so über Texte miteinander online zu diskutieren. Ich habe schon öfter darüber nachgedacht, wie das gehen könnte, weil es einen Text gibt, über den ich mich aus ähnlichen Gründen gerne
    mit anderen austauschen würde und ich bin gespannt, was hier passieren wird … Leider bin ich gerade mit gleich mehreren Projekten so beschäftigt, dass ich nicht dazukomme werde, „Frau im Dunkeln“ zu lesen, aber ich wünsche gutes Gelingen!

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  8. Bin über den Instagram Account von Belle auf diesen Blog neugierig geworden. Als ich noch in Deutschland lebte hatten wir einen Literaturkreis, den ich hier in Andalusien schmerzlich vermisse. Ich finde diese Möglichkeit im Blog eine wunderbare Alternative nur fällt es mir schwer mich auszutauschen wenn ich die anderen Teilnehmer so gar nicht kenne.

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